Kapitel 5

17. November

‚Sich selbst beim Denken zusehen‘, dachte er sich, und der Grad seiner Selbstbetrachtung befremdete ihn. ‚Manchmal wäre es schöner, überhaupt nicht zu denken‘, dachte er – wohl wissend, dass er dann auch nicht hätte denken können, dass es manchmal schöner wäre, überhaupt nicht zu denken. Er beschloss, zur Ablenkung nach neuen E-Mails zu sehen.

Neben dem üblichen Werbe-Spam war auch eine Nachricht einer Freundin enthalten: Miriam hatte geschrieben, das erste Mal seit langer Zeit. Miriam war nicht ihr wirklicher Name, aber sie war der Ansicht, dass es ihr „wahrhafter“ Name sei, nachdem sie an einer therapeutischen Maßnahme teilgenommen hatte – oder das, was Miriam zu diesem Zeitpunkt für eine therapeutische Maßnahme gehalten hatte.

Miriam war ein erstaunlicher Mensch: die äußerst sensitive Art der Wahrnehmung ihrer Umwelt ermöglichte es ihr, Stimmungen direkt und unverfälscht zu erfassen. Es war unmöglich, ihr etwas vorzuspielen oder sie mit einer Fassade aus vorgetäuschten Gefühlen zu blenden. Miriam konnte immer hinter die Kulissen blicken und ihr Gegenüber so wahrnehmen, wie es wirklich war.

Eine seltene Gabe, und diese Gabe erschien ihm noch seltener, wenn man betrachtet, wie leichtfertig sich die meisten Menschen lieber mit einer angenehmen Lüge als mit einer unbequemen Wahrheit beschäftigten.

Hallo mein Freund, heute ist der Todestag von Jakob Böhme

>> Hallo mein Freund,
heute ist der Todestag von Jakob Böhme… <<

schrieb sie.
‚Nanu‘, ging es ihm durch den Kopf, aber ein Blick auf die Datumsanzeige am Computer bestätigte: 17.11. Es war inzwischen also schon nach Mitternacht. Die genaue Uhrzeit interessierte ihn nicht, und so las er weiter:

>> …und wie du ja weißt, war ich lange Zeit Teil einer theosophischen Gemeinschaft, die sich auf die Ideen und das Weltbild dieses Mystikers beruft. Jakob Böhme hat ja nicht nur mein Leben sehr geprägt, sondern indirekt auch das deine, denn der von dir lange Zeit hoch geschätzte Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatte Böhme als „ersten deutschen Philosophen“ bezeichnet.

Böhmes Pantheismus hatte ihm damals viele Feinde in der offiziellen Kirche – vor allem der lutherischen – eingebracht, und seine Dialektik hatte großen Einfluss auf nachfolgende Generationen. Dabei ließ sich Böhme von dem einzigen Argument leiten, dass unzweifelhaft wirklich ist: die eigene Erfahrung. <<

‚Schön und gut‘, dachte er sich, ‚aber das weiß ich ja alles schon‘.
Nun wäre Miriam aber nicht Miriam, wenn das Thema sich nicht plötzlich komplett ändern würde. Also las er weiter:

Was ich dir damit sagen will, wirst du dich fragen.

>> Was ich dir damit sagen will, wirst du dich fragen. <<

Er lächelte still in sich hinein.

Ich habe über unser letztes Gespräch nachgedacht und bin nach einigen Überlegungen zu der Überzeugung gekommen, dass ich nicht die bin, von der ich immer dachte, dass ich es sei. Kennst du dieses Gefühl?

>> Ich habe über unser letztes Gespräch nachgedacht und bin nach einigen Überlegungen zu der Überzeugung gekommen, dass ich nicht die bin, von der ich immer dachte, dass ich es sei. Kennst du dieses Gefühl? <<

Bei diesen Worten hielt er kurz inne, atmete tief ein und las weiter:

Ich meine, wie weit können wir unserer eigenen Erfahrung denn wirklich vertrauen? Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich nur existiere, wenn ich in der Lage bin, meine bisher im Leben gemachten Erfahrungen zu rekapitulieren. Und manchmal ist es genau das Gegenteil: Ich bin mir dann sicher, alles vergessen zu müssen, um überhaupt das wahrnehmen zu können, was ich als mich selbst betrachte. Dieses Hin und Her treibt mich schier in die Verzweiflung, und da ich keinen Rat wusste, wollte ich wenigstens, dass du weißt, wie es mir mit dieser Ungewissheit ergeht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich überhaupt Gewissheit in diesen Dingen haben möchte. Bitte entschuldige, dass ich dich mit diesem Gedankengewirr mitten in der Nacht einfach so überflute. In tiefer Freundschaft Miriam

>> Ich meine, wie weit können wir unserer eigenen Erfahrung denn wirklich vertrauen? Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich nur existiere, wenn ich in der Lage bin, meine bisher im Leben gemachten Erfahrungen zu rekapitulieren. Und manchmal ist es genau das Gegenteil: Ich bin mir dann sicher, alles vergessen zu müssen, um überhaupt das wahrnehmen zu können, was ich als mich selbst betrachte.

Dieses Hin und Her treibt mich schier in die Verzweiflung, und da ich keinen Rat wusste, wollte ich wenigstens, dass du weißt, wie es mir mit dieser Ungewissheit ergeht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich überhaupt Gewissheit in diesen Dingen haben möchte.

Bitte entschuldige, dass ich dich mit diesem Gedankengewirr mitten in der Nacht einfach so überflute.

In tiefer Freundschaft
Miriam <<

Die Worte der Freundin erinnerten ihn schmerzhaft daran, dass ihre seltene Gabe leider einen einzigen Mangel hatte: Die Fähigkeit der unverstellten Erkenntnis bezog sich nur auf andere Menschen. Was ihre eigene Selbstwahrnehmung betraf, war Miriam sehr oft in ihrem Leben vom Kurs abgekommen: So hatte sie beispielsweise ihre langjährige Beschäftigung mit Horoskopen, Astrologie und anderem esoterischen Unrat erst auf sein Anraten hin beendet. Genau genommen hatte er ihr gar nicht dazu geraten, sondern lediglich das Horoskop, das sie ihm in mühevoller Kleinarbeit erstellt hatte, als fragwürdig erachtet. Für das Horoskop hatte Miriam ihn nach seinen persönlichen Daten gefragt, unter anderem auch nach Geburtstag und Geburtsstunde. Bei der Stunde hatte er ihr „23 Uhr 30“ angegeben, und sie hatte fleißig los gerechnet – mit Aszendenten, Häusern und sonstigen zugehörigen Parametern. Daraus ergab sich ein, wie man meinen könnte, ganz klares, eindeutiges und unzweifelhaftes Persönlichkeitsbild, das Miriam ihm dann stolz als Ergebnis ihrer Arbeit präsentierte.

Einiges daran erschien ihm jedoch sehr suspekt, und in einem Gespräch mit seiner Mutter einige Wochen später hatte er dann erfahren, dass seine Geburtsstunde nicht – wie von ihm bisher angenommen – in der Stunde vor Mitternacht lag, sondern bereits um kurz nach drei Uhr morgens gewesen sei. Mit diesem – möglicherweise wichtigen – Detail wandte er sich wieder an Miriam, die sofort von neuem zu rechnen begann. Das Ergebnis war dann ein deutlich anderes Bild seiner selbst, nur dass die jetzt neuen Ergebnisse ihn noch mehr befremdeten als es das erste Horoskop bereits getan hatte. Daraufhin kontaktierte er die Freundin und trug vorsichtig und in wohlgewählten Worten seine grundsätzlichen Bedenken gegen diese pseudowissenschaftlichen Machenschaften vor.

Miriam grübelte über die Einwände des Freundes einige Tage nach, um anschließend alle Bücher und Utensilien zu dem unsäglichen Thema Astrologie im Wald zu verscharren und diese Episode ihres Lebens damit abzuschließen. Bestimmt war es ihre eigene Einsicht, die dazu führte, aber sie brauchte eben erst diesen äußeren Impuls eines Mitmenschen.