Kapitel 6

18. November

Am nächsten Tag stand er schon früh auf. Da er am Vortag das Abendessen ausgelassen hatte, war er bei Sonnenaufgang schon hungrig. Zum Glück wird der kleine Bäckerladen unten im Dorf bereits ab sechs Uhr geöffnet.

Er zog seine Kleider an und schlenderte durch den kalten, aber klaren Morgen. Obwohl er keine Lust zum Reden hatte, war er das erste Mal seit Tagen wieder unter Menschen gegangen. Nachdem er die Autowerkstätte passiert hatte, in der schon zu dieser frühen Stunde fleißig gehämmert und geschweißt wurde, fiel sein Blick auf die vor kurzem neu errichtete Litfaßsäule. Zu seinem Erstaunen war diese aber nicht mehr leer. In großen Lettern stand dort zu lesen:

Darüber kann man nachdenken.

Wer das wohl geschrieben hatte? Irgendein religiöser Fundamentalist? Und wenn ja, welcher Religion mochte der dann angehören?

Religion.

‚Schon wieder Religion‘, dachte er. ‚So langsam nervt das.“

Er betrat den kleinen Laden. Es war die Sorte Laden, die irgendwie alles und trotzdem irgendwie nichts im Sortiment hat. Ob man es als alles oder nichts einschätzte, hing vor allem von den eigenen Ernährungsgewohnheiten ab. Die größte Auswahl hatte der Laden zweifellos an der Wursttheke, und von den Dorfbewohnern, die sich mental immer noch in der „Fleisch-ist-ein-Stück-Lebenskraft“-Gesellschaft des längst vergangenen Jahrtausends bewegten, wurde das umfangreiche Angebot an in Scheiben geschnittenen Kadavern gerne in Anspruch genommen. Auch die zerhackstückten Tierleichen, die man perverser weise in ihrem eigenen Darm abgefüllt feilbot, fanden begeisterte Käufer.

Vor ihm standen noch ein paar andere Kunden in der Warteschlange, und zum Zeitvertreib wendete er sich dem Zeitungsregal zu. Dieses bot neben dem üblichen Arsenal an Kinderverblödungs-, Jugendverblödungs- und Frauenverblödungs-Zeitschriften wenigstens eine halbwegs lesbare Tageszeitung an, die er vor allem wegen des Kulturteils als akzeptabel befand. Er blätterte also zielsicher zum schriftlich dokumentierten Geschehen aus Literaturbesprechung, Filmtipps und Musikkolumne. Dort fand er, zur Bestätigung der Richtigkeit seiner Zeitungswahl, eine Hommage an den Trompeter Don Cherry.
‚Gut so‘, dachte er, denn heute war der Geburtstag des ebenso experimentierfreudigen wie grenzüberschreitenden Musikers. Don Cherry hatte als Free-Jazzer an der Seite Ornette Colemans angefangen und sich über Charlie Hadens Liberation Orchestra und World-Music mit Naná Vasconcelos bis hin zum punkigen Crossover der britischen Band Rip, Rig & Panic als musikalischer Weltbürger etablieren können.

„Darf es außer dem Bierschinken noch was sein?“
hörte er den geschäftstüchtigen und immer etwas hektisch wirkenden Verkäufer fragen. „Ja, ein halbes Pfund Fleischkäse“, entgegnete die Kundin. Er drehte sich um und sah eine Frau mittleren Alters. ‚Sie war in ihrer Jugend bestimmt mal sehr schön anzusehen gewesen‘, dachte er sich, und im gleichen Moment fiel ihm wieder eine Bildercollage ein, die er einmal auf einer Website im Internet gesehen hatte.
Dort wurde behauptet, dass sich Hundehalter mit den Jahren optisch immer mehr an das Aussehen ihres Hundes anpassten. Zum Beweis dieser These waren Fotos beigefügt, und tatsächlich hatte der drahtige, Inline skatende Mittdreißiger auf einem der Bilder eine deutliche Ähnlichkeit mit seinem ihn begleitenden Windhund. Auf einem weiteren Bild war eine fettleibige, schwitzende Hausfrau mit einem hechelnden, sabbernden Bernhardiner zu sehen – die Gesichtsausdrücke von Mensch und Tier waren in frappierender Weise identisch. Ein drittes Bild kam ihm in den Sinn, bei dem ein kleiner, ältlicher Mann mit eingezogenem Kopf einen Dackel spazieren führte, der im Profil seinem Herrchen wie aus dem Gesicht geschnitten schien.

Er blickte erneut zu der Frau, der ihre verblichene Schönheit ins noch gar nicht so alte, aber dennoch aufgedunsene Gesicht geschrieben stand, und für einen Moment schien sie sich vor seinen Augen in ein Stück Fleischkäse zu verwandeln – fettig, glitschig und einen unangenehmen Geruch absondernd.
„Der Mensch ist, was er isst“ hatte der Philosoph Ludwig Feuerbach schon im 19. Jahrhundert postuliert, und hier und jetzt im kleinen Dorfladen schien sich der Beweis dafür zu finden – falls es überhaupt noch eines Beweises bedurft hatte.

„Und was bekommt er?“ hörte er den Verkäufer fragen.

Als er sinnierte, ob Don Cherrys Mitwirkung auf dem Rip Rig & Panic–Album „I am cold“ mehr auf musikalische Aspekte begründet oder eher der Tatsache geschuldet war, dass Cherrys Stieftochter Neneh auf diesem Album als Sängerin vertreten war, noch bevor sie einige Jahre später als Solistin endlich den verdienten Erfolg verbuchen konnte, hörte er die Stimme des Verkäufers erneut – jetzt etwas weniger freundlich und von forschem Tonfall geprägt. „Und was bekommt er? Oder ist er nur zum Zeitungslesen gekommen?“

„Ach so, Entschuldigung…“ er drehte sich lächelnd um, “ich hab´ nicht bemerkt, dass ich schon dran bin.“ entgegnete er. „Grobe Mettwurst hätten wir heute im Angebot, sehr lecker zum Frühstück.“ Der Verkäufer bohrte sich kurz in der Nase, ohne vorher die für den Wurstverkauf vorgeschriebenen Plastikhandschuhe ausgezogen zu haben. Dann zeigte seine Hand wieder Richtung Fleischtheke. „Oder vielleicht doch lieber Kalbsleberwurst?“ Der so Angesprochene unterdrückte den Würgereiz und versuchte höflich zu bleiben: „Nein, danke. Zwei Vollkornbrötchen, bitte… und vielleicht können Sie ja die Handschuhe ausziehen, bevor Sie meine Backwaren anfassen?“ „Zwei Vollkornbrötchen, jawoll“, wiederholte der Verkäufer, zog seine Plastikhandschuhe aus und packte die Brötchen in eine kleine Papiertüte, ohne die für den Backwarenverkauf vorgesehene Greifzange zu verwenden. „Und die Zeitung?“ „Nein, danke. Don Cherry ist ja leider schon gestorben – da brauche ich die Zeitung jetzt auch nicht mehr.“

Der Verkäufer blickte ihn kurz mit einem verständnislosen Blick an. „Also dann, Einszwanzig bitte“. Das Geld wurde passend abgezählt über den Tresen geschoben, und beim Hinausgehen fiel ihm noch der Name eines Songs der von ihm hoch geschätzen Band ‚Rip Rig and Panic‘ ein: „Go go go, this is it“

Beim nach Hause gehen war er schon gespannt, was der Tag noch bringen würde.
Der Tag brachte aber nichts, und er ging früh zu Bett.