Kapitel 9

21. November

Er war früh aufgewacht. Noch ist es dunkel, aber schon bald wird die Sonne aufgehen, ging es ihm im Halbschlaf durch den Kopf. Ach was, so ein Blödsinn, so eine Lüge… halt, stop! Am besten gleich aufschreiben. Der erste Gedanke ist angeblich immer der Beste. Er nahm also sein Büchlein und schrieb:

‚Seit Kindesbeinen an haben sie mir erzählt, dass morgens die Sonne aufgeht und abends wieder untergeht. Und wenn ich fragte, wo die Sonne nachts denn sei, dann hieß es: „In Australien. Das ist ganz weit weg. Und wenn es bei uns Nacht ist, ist es in Australien Tag.“

Ach was, so ein Blödsinn, so eine Lüge. Die Sonne geht gar nicht auf und dann wieder unter und dann nach Australien und dann wieder auf. Ich habe es nämlich im Radio gehört: Die Sonne ist da, wo sie immer ist. Nur die Erde dreht sich um die Sonne, und wenn unser kleines Dorf sich bei dieser Drehung der Sonne zuwendet, nennen wir das „Tag“, und wenn sich durch die Rotation mein Elternhaus wieder von der Sonne wegdreht, dann nennen wir das „Nacht“. So ist das in echt! Die meisten Erwachsenen hatten sich nicht die Mühe gemacht, mir das als Kind mal richtig zu erklären – sie waren ja immer mit irgendwas anderem beschäftigt. Also haben sie mich angelogen und gesagt ‚die Sonne geht auf‘ und ‚die Sonne geht unter‘. Da muss man dann als Kind doch irgendwann mal aufhören, alles zu glauben, was einem die angeblich ach so Großen erzählen, oder?

Zum Glück gab es das Radio. Als Kind war das mein Tor zur Welt. Es war die Zeit, in der die Moderatoren noch die Musik ansagten, dann gab es eine oder zwei Sekunden Pause, damit die Tonbandfreunde auf die Aufnahme-Taste drücken konnten, und dann kam das angekündigte Lied. Das ganze Lied. Ohne Geschwätz. Bis zum Schluss. Dann gab es wieder ein bis zwei Sekunden Pause, damit die Radiohörer an ihren Tonbandgeräten die Halt-Taste drücken konnten, und erst dann fing der Moderator wieder an zu sprechen. Was für ein Respekt für die Musik!

Das sollte sich aber ändern, denn in diesen jungen Jahren machte ich eine Entdeckung, die mich nachhaltig prägen sollte: AFN.‘

Der Sender „American Forces Network“ war eigentlich als Sender für die weltweit agierenden amerikanischen Soldaten konzipiert. Auch in seiner Heimatregion waren die wahlweise „Befreier“, „Besatzer“ oder einfach nur „Amis“ genannten GIs allgegenwärtig – und damit auch die „American Forces Network“.

Mit einer Kombination aus politischer Propaganda („don’t talk to people who were born in East Germany“), nützlichen Tipps für die Freizeit („German-American friendship celebration“) und rudimentären Deutsch-Kursen („Kommn Si summ doitsch-ammeriganische Froindschaftsfäst“) brachte AFN eine für ihn bis dahin ungehörte Kombination aus Musik und Moderation; während man auf Bayern 3 die damals als jugendlich-frisch empfundenen Moderationen des Adoleszenz-Verweigerers Thomas Gottschalk in „Pop nach Acht“ ertragen musste, um einigermaßen aktuelle Musik hören zu können, ging es anschließend ab 21 Uhr auf AFN ganz anders zur Sache:

Es war die Stunde von „Wolfman Jack“. Der amerikanische Radio-DJ wurde wegen seiner unkonventionellen Art der Moderation von vielen für einen überdrehten, durchgeknallten Schwarzen gehalten. In Wirklichkeit war der Mann mit der heiseren Stimme aber ein überdrehter, durchgeknallter Weißer, der in seiner Show eine wilde Mischung aller möglichen Musikstile spielte. In dieser Sendung gab es immer musikalische Feinheiten zu hören, die das biedere und brave deutsche Radio damals kaum oder gar nicht gespielt hatte: Steely Dan, Joni Mitchell, Dr. John und Van Morrison waren bei Wolfman Jack on air. Das war eine ganz andere Welt! Und diese galt es mit dem Kassettenrekorder aufzuzeichnen, damit man die folgenden trüben Tage in der Pein des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks überleben konnte. Was kannten wir denn schon: Bernd Clüver war der Junge mit der Mundharmonika, Vicky Leandros plante mit irgendeinem Theo nach Lodz zu fahren und, mal ganz ehrlich: Wer wollte schon mit Peter Alexander in die kleine Kneipe? Selbst ein noch nicht mal Pubertierender konnte sich da nur mit Graus abwenden. Es klang so ähnlich wie bei Nietzsche: Die tragische Fehlgeburt aus geistloser Musik. 

Zu der Zeit, als Huh-hah-Dschinghis Khan Deutschland beim „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ vertrat und parallel dazu Warren Zevon’s „Werewolves of London“ mit dem charakteristischen Geheule Wolfman Jacks auf AFN verschmolz, war klar: die Amerikaner haben definitiv einen Beitrag zur Erweiterung des deutschen kulturellen Horizonts geleistet – und dabei es gab noch gar keinen Hiphop oder Rap…

‚Na, das ist aber lange her und weit weg‘, dachte er sich, und es sollte noch einige Zeit dauern, bis seine von Blues, Rock, Jazz und Folk geprägte musikalische Weltsicht wieder auf eine ernsthafte Probe gestellt wurde. Nicht die zahllosen britischen Musiker, die er ebenfalls schätzte, waren es, sondern eine etwas seltsam anmutende junge Frau aus Island. Ihre frühen Jahre mit den Sugarcubes waren musikalisch schon originell, aber mit ihrem Solowerk zog sie ihn vollkommen in ihren Bann. Und dann ihre Worte – solche Songtitel wären ihm auch gerne eingefallen: „There´s more to life than this“, „Violently Happy“, „Play dead“, “Unravel”, „All is full of love“… dazu die Videos und Auftritte dieser Frau: Davon konnten andere sogenannte Künstlerinnen bestenfalls träumen. ‚Bestimmt ist es kein Zufall, dass sie im selben Jahr wie ich zur Welt gekommen war und heute Geburtstag hat: Björk.‘

‚Hmmm,‘ dachte er, ‚das ist eine interessante Feststellung: Wir haben es selbst in der Hand.‘
Oder?

Die eigene Lebensgeschichte ist ja auch immer mit der Lebensgeschichte anderer Menschen verknüpft. Und somit werden manche Ereignisse im eigenen Leben dann auch zu Ereignissen im Leben anderer Menschen. Niemand ist frei davon, von anderen beeinflusst zu werden oder andere zu beeinflussen – ob man nun will oder nicht, die positiven wie die negativen Dinge des eigenen Daseins korrespondieren immer mit dem Leben anderer Menschen. Der Versuch, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, musste also notwendigerweise auch Abschnitte aus dem Leben anderer Menschen beinhalten.

Nur: haben diese anderen Menschen an diese gemeinsamen Erlebnisse die gleiche Erinnerung wie man selbst?‘

Wohl kaum. Nicht nur, weil jeder die Welt und das Leben subjektiv wahrnimmt und daher eine allgemeine Objektivität per Definition gar nicht möglich ist – das ganze wird auch noch erschwert durch die Tatsache, dass das Erinnerungsvermögen von emotionalen Aspekten dominiert wird:

Es gibt in der experimentellen Psychologie eine wissenschaftliche Studie, die auf dem sogenannten DRM-Test zur extern induzierten False Memory basiert. Diese Untersuchung wurde nach ihren Initiatoren Deese-Roediger-McDermott benannt und beschreibt folgenden Vorgang: Menschen werden Listen mit Wörtern vorgelegt, die einen gemeinsamen inhaltlichen Bezugspunkt haben, wie beispielsweise die Wörter „Schlummern – Traum – Nickerchen usw.“ Die Probanden sollen dann im nachfolgenden Test möglichst viele der aufgelisteten Wörter aufschreiben. Auffallend ist dabei, dass der Begriff „Schlaf“ sehr häufig genannt wird, obwohl er auf der Liste gar nicht enthalten war, sondern lediglich als gemeinsames Schlüsselwort zu allen genannten Begriffen fungierte.

Darauf basierend führten Wissenschaftler den „Meeting Bugs Bunny at Disneyland“-Test durch, bei dem Menschen nach ihrem Besuch im Disneyland zunächst einige Comicfiguren wie Micky Maus, Donald Duck, Goofy und weitere gezeigt wurden. Im Anschluss sollten die Testpersonen ihre Erlebnisse im Disneyland beschreiben. Hierbei trat ein erstaunliches Verhalten zu Tage: Es gab Probanden, die behaupteten, im Disneyland Bugs Bunny getroffen zu haben. Auf die Nachfrage der Wissenschaftler nach dein Begleitumständen des Treffens konnten durch die Befragten teils allgemeine Umstände benannt werden – beispielsweise „das Wetter war sehr schön“ oder „es waren viele Menschen im Park“, zum Teil auch sehr präzise Details wie „meine Schwester war auch dabei und hatte Zahnschmerzen“ oder „ich hatte ein gelbes T-Shirt und meine roten Schuhe an“.

Das eigentlich frappierende an diesem Test ist die Tatsache, dass Bugs Bunny eine Figur der Warner Brothers-Trickfilmstudios war und somit im Disneyland gar nicht vorhanden ist. Warum also konnten sich Menschen angeblich ganz genau daran erinnern, im Disneyland Bugs Bunny getroffen zu haben oder auf einer Liste das Wort „Schlaf“ gelesen zu haben, obwohl beides definitiv nicht vorhanden war? Was bedeutet das für unsere eigenen Erinnerungen – kann man ihnen wirklich trauen oder sind sie auch nur ein Produkt externer Suggestion?

Ihm fiel das längst vergangene Konzert eines Pianisten ein, das er mit einem Freund besuchen wollte. Unglücklicherweise hatten sie keine Eintrittskarten im Vorverkauf mehr erhalten und waren am Tag des Konzerts auf gut Glück zum Veranstaltungsort gegangen, um vielleicht doch noch kurzfristig Tickets zu ergattern. Leider gab es aber keine Karten mehr, und so zogen sie enttäuscht wieder von dannen. Trotzdem erzählte ihm der Freund noch Jahrzehnte später von diesem „geilen Konzert. Weißt du noch – wir beide ganz vorne, super Stimmung, klasse Musik, toller Sound etc pp“.

Was war das denn nun? Hatte der Freund nur fantasiert oder sich den Konzertbesuch so sehr gewünscht, dass dieser nun in dessen Erinnerung zum angeblich wirklich Erlebten hochstilisiert wurde? Oder hatte ihn sein eigenes Erinnerungsvermögen so sehr getäuscht, dass sie doch bei dem Konzert gewesen waren und seine Erinnerung an die nicht verfügbaren Tickets einfach falsch war? Beides zugleich konnte ja nicht stimmen. Gab es vielleicht sogar eine ganz andere Version, die der Wahrheit entsprach? Vielleicht, dass das Konzert abgesagt wurde oder gar nicht stattgefunden hatte oder dass es den Pianisten nie gegeben hatte oder besagter Freund nur eine Erscheinung seiner Fantasie war oder er selbst vielleicht gar nicht….

Moment! Das ist doch eine uralte philosophische Frage, dachte er sich; und die Antwort darauf lautet „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Ob das nun von Sokrates, Platon, Cicero oder doch einem anderen Verfasser stammt, ist umstritten – aber streiten wollte er sich jetzt nicht, und so beschloss er, seine Aufzeichnungen für heute zu beenden und vielleicht noch einen kleinen Spaziergang zu unternehmen.