Kapitel 10

22. November

Er war erstaunt, dass es draußen schon wieder dunkel geworden war. Schreiben war anscheinend eine sehr zeitintensive Sache, und seine verbleibende Zeit war begrenzt. Andererseits: Die Zeit aller Menschen war begrenzt, nur wussten es die meisten nicht so genau wie er. Egal ob sie nun schrieben oder nicht – sie alle müssten irgendwann sterben, genau wie er. Also war Schreiben nicht das Schlechteste, was man mit seiner Lebenszeit anfangen konnte.

Er ging den Weg von seinem Haus hinunter in das kleine Dorf, ohne genau zu wissen, wohin er wollte. Um diese Uhrzeit war der Ort sowieso wie ausgestorben, kein Mensch mehr auf der Straße – er konnte sich also in Ruhe nach draußen wagen, ohne mit der Belästigung eines Small Talk-Gesprächs rechnen zu müssen.

‚Zum Fluss‘ kam es ihm in den Kopf. Sein Wohnort war nicht direkt am Wasser gelegen, aber die ungefähr 15 Gehminuten entfernte Nachbargemeinde bergabwärts lag an einem Fluss. Sein Weg sollte ihn also quer durch seine Ortschaft ans andere Ende dieser Häuseransammlung führen und von dort dann ans Wasser. Obwohl es November war, erschien ihm die Nacht nicht kalt oder ungemütlich. Als er in der Dorfmitte angekommen war, sah er wieder die vor kurzem errichtete Litfaßsäule.

Die Straßenlampen erzeugten nur ein relativ schwaches Licht, und dennoch fiel ihm sofort auf, dass sich auf der Litfaßsäule etwas geändert hatte: jemand musste die bisherige Beschriftung überklebt haben. Er trat näher heran und erkannte ein halb verdecktes Gesicht, dass über eine Mauer sah. Darüber entzifferte er die Aufschrift: „Kilroy was here“.

Ihm fiel ein, dass diese frühe Form der Popkultur wahrscheinlich im zweiten Weltkrieg entstanden war und vermutlich von amerikanischen Soldaten als nicht ganz ernst gemeinte Demonstration ihrer Omnipräsenz und Hegemonie an alle möglichen und unmöglichen Orte gekritzelt wurde. Später wurde das Motiv unter anderem in der Literatur durch Tennessee Williams und in der Musik durch Georg Danzer wieder aufgegriffen. Aber was hatte es hier zu suchen? Kilroy war ja eine Erfindung, und die Bewohner seines Dorfes waren ihm bisher nicht durch besonders mannigfaltigen Erfindungsreichtum aufgefallen. Er setze also seinen Weg fort. Noch bevor er das Ortsende erreicht hatte, gingen plötzlich die Lichter aus und die Kirchturmglocke begann zu schlagen. ‚Es muss wohl gerade Mitternacht sein‘, ging es ihm durch den Kopf, und die entgegen der Redewendung doch nicht hochgeklappten Gehsteige entlang ging er Orts auswärts.

Als er den Bahnhof passierte, der genau zwischen den beiden Dörfern lag, fiel ihm auf, wie salomonisch in seiner Heimat Probleme gelöst wurden: Die Bahnlinie verlief genau zwischen den beiden Ortschaften, so dass weder die Einwohner seines Ortes noch die Bewohner der am Fluss gelegenen Nachbargemeinde den Bahnhof ihr Eigen nennen konnten. Genau genommen war der Bahnhof genannte Ort kein richtiger Bahnhof mehr, sondern nur noch ein Fahrkartenautomat sowie eine Sitzbank, die beide durch eine schäbige Plastik-Konstruktion überdacht waren. Die Bewohner beider Dörfer mussten also einen längeren Weg in Kauf nehmen, um den sogenannten Bahnhof zu erreichen.

In einer ähnlichen Art und Weise des Aufgabenlösungsansatzes wurde die alte Brücke über den Fluss in der nahegelegenen Kleinstadt von den Vertretern aller im Stadtrat versammelten politischen Fraktionen per Beschluss einstimmig zur Einbahnstraße umfunktioniert. Leider konnten sich die sogenannten Volksvertreter über die Fahrtrichtung der Einbahnstraße überhaupt nicht einigen, was dazu führte, dass die alte Brücke der Einfachheit halber für den gesamten Autoverkehr gesperrt wurde.

Es gibt Dinge, die einem den Abschied vom Leben einfach machen, dachte er sich, und die Geistlosigkeit seiner Mitmenschen war eines dieser Dinge. Er wollte sich aber keineswegs der Schönheit seines nächtlichen Spazierganges durch Nichtigkeiten berauben lassen und überlegte, was den 22. November zu etwas Besonderem machte. Sein ebenso zufälliges wie scheinbar nutzloses Wissen um Kalendertage blitzte kurzzeitig auf und gab ihm die Antwort „Geburtstag von Terry Gilliam“.

‚Dieses Multi-Talent ist ein Sonderling ganz nach meinem Geschmack‘, dachte er. Nicht nur, dass Gilliam der einzige Nicht-Brite bei den legendären Monty Python war, auch seine Arbeitsweise war ohnegleichen: Für das letzte gemeinsame Monty Python Kino-Opus „Der Sinn des Lebens“ verbrauchte Gilliam als Regisseur des Vorfilms allein ein höheres Budget als für den restlichen Film zur Verfügung stand, obwohl „The Crimson Permanent Assurance“ nur einen Bruchteil der Laufzeit des in sieben Kapitel gegliederten „Sinn des Lebens“ ausmacht. Als nach dem Tod Graham Chapmans Monty Python auseinanderfiel, konnte sich Gilliam als Drehbuchautor und Regisseur bildgewaltiger Filme etablieren, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion mühelos aufhoben und durch ihre unvorhersehbaren Wendungen den Zuschauer entweder vollkommen faszinierten oder ratlos zurückließen.

Den Bahnhof hinter sich lassend und zielstrebig Richtung Fluss laufend, fielen ihm die Parallelen seines eigenen Lebens mit dem der Filmfiguren in Terry Gilliams Werk zum ersten Mal bewusst auf:
der sich der Autorität entziehende Heizungsmonteur Tuttle in „Brazil“, der unter seltsamen Flashbacks leidende Zeitreisende Cole in „Twelve Monkeys“, der das trostlose Scheitern seiner Generation nicht akzeptierende Drogenkonsument Duke aus „Fear and Loathing in Las Vegas“ und gleich beide Hauptrollen in „König der Fischer“: der egozentrische Radio-Ex-Mitarbeiter Jack (gespielt von Jeff Bridges) wird erst über den Umweg des Verlustes seines bisherigen Selbstbildes zur Empathie fähig, während der durch einen Schicksalsschlag aus der Bahn geworfene Underdog Parry (Robin Williams) verzweifelt um seine Selbstachtung kämpft. In beiden Figuren konnte er Teile seiner eigenen Lebensgeschichte erkennen. Gilliams subtile Art, den handelnden Personen allmählich Kontur zu verleihen und ihre Lebensgeschichte erst nach und nach zu entblättern und dann in Beziehung zueinander zu setzen, deckte sich mit seinen Erfahrungen. Er hielt sich nicht für jemanden, der die Zusammenhänge der Dinge besonders schnell erfasste, aber er wusste auch, dass er bereit und fähig war, einen einmal gefundenen Zugang zu den Antworten auf die großen Fragen des Lebens konsequent weiter zu verfolgen. Dass dieser Weg Irrungen, Wirrungen und Sackgassen beinhaltet, schien ihm dabei nur logisch.

Die Themen Weg und Ziel hatten ihn immer interessiert, auch wenn er mit den gegebenen Aussagen nicht einverstanden war. Die Buddhisten behaupten immer ‚Der Weg ist das Ziel‘; plausibler erschienen wäre ihm die Feststellung ‚Das Ziel ist im Weg‘. Für ihn war klar: Das Ziel ist wie der Horizont – egal wie lange ich auch unterwegs bin, so werde ich doch nie ankommen.

Mittlerweile hatte er den Fluss erreicht. Hmmm, doch am Ziel angekommen? Scheinbar ja. Er schlenderte am Wasser entlang und versuchte sich als listiger Verfasser kleiner Denksportaufgaben. Frage: „Was ist der Unterschied zwischen Wasser und der CSU?“ Antwort: „Wasser ist flüssig, die CSU ist überflüssig“. Hahaha, damit ließe sich als Gagschreiber für deutsche Comedians bestimmt ein Einkommen erzielen, dass in seiner Bescheidenheit der Bescheidenheit des Gags in nichts nachstand. Der ausführende Komiker könnte dann dank der geistigen Bescheidenheit des Publikums trotzdem Fußballstadien füllen und sich seine bescheidenen Witzchen, die er schon als Animateur auf Mallorca am Ballermann zum Besten gab, vom zahlungskräftigen und humorfreien Publikum vergolden lassen. Ha-ha-ha-haben-wir-gelacht.

Nach einiger Zeit befand er, den kleinen Pfad am Wasser nun zur Genüge gegangen zu sein und machte sich auf den Heimweg. Eigentlich hatte er nichts Interessantes mehr erwartet, aber sein Heimweg barg doch noch eine Überraschung. An der Litfaßsäule entdeckte er im Halbdunkel den matten Glanz frischer Farbe. Er ging also zu der zylinderförmigen Botschaftsverkünderin und las unter dem erst seit kurzem dort prangernden „Kilroy was here“ noch einen offensichtlich erst kürzlich ergänzten Zusatz:

Er beschloss, es dem seltsamen Kilroy gleich zu tun und machte sich ebenfalls davon, um sich der heimischen Nachtruhe hinzugeben.