Filler 3: Porträt des Protagonisten, in derDarstellung ausgedünnt. Daneben das Motto: "One small step for mankind - one giant leap for a man."

Kapitel 15

27. November

„Und?“

„Was, und?“

„Und wie gefällt Ihnen der Film bis hierher?“

Der Fragesteller hatte die Fernbedienung noch in der Hand. Auf der Leinwand, die in dem Saal so angebracht war, dass man sie von jedem Punkt des Raumes aus gut einsehen konnte, blinkte links unten:

„Was soll das bedeuten: Plakate ankleben verboten?“ kam eine Stimme aus dem Publikum. „Na was wohl? Es ist ein Gag.“ kam es aus einer anderen Ecke. „Aber das ist doch kein Gag. Was soll daran lustig sein?“ rief der erste Fragesteller zurück. Nun begann ein Murmeln und Raunen im Saal, und der Filmvorführer nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass das Publikum anfing, über den eben gesehenen Film zu diskutieren. „Das ist doch total langweilig. Ich meine, was soll das? Der Typ hat nicht mehr lange zu leben und hockt einfach nur rum und schreibt und labert und schreibt…“ „Ich sehe das anders“, meldete sich eine weitere Zuschauerstimme zu Wort, „Gerade durch das Schreiben und die Gespräche wird er ja zur Reflexion mit seinem bisherigen Leben veranlasst, und als Beschäftigung dient ihm…“ „Ach was“ rief jemand dazwischen, „für mich hat der einfach einen an der Klatsche!“ Allgemeines Gelächter brach aus. Ja, ein scharfsinniger Einwand, wenn auch sprachlich äußerst plump formuliert. „Das wäre natürlich auch möglich“ warf der Filmvorführer süffisant schmunzelnd ein, „wenn man einen anderen Menschen nicht versteht, dann kann das auch daran liegen, dass dieser andere einfach verrückt ist. Durchgeknallt, bescheuert, plemplem – na, Sie wissen doch, es gibt ja viele Ausdrücke dafür.“ Die Stimmung im Raum wirkte nun locker und gelöst. Es wurde gekichert, gefeixt und gelacht. „Aber…“ eine Stimme vom Ende des Saales versuchte sich Gehör zu verschaffen, „aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit.“ Das allgemeine Getuschel wurde leiser, und die Stimme fuhr fort: „Es könnte ja auch sein, dass … wie soll ich sagen…“ nach und nach drehten sich die Filmbetrachter um „…dass der Mann in dem Film das einzig richtige tut und alle anderen außen herum sein Handeln nicht nachvollziehen können, weil sie selbst die Verrückten sind.“

Es wurde still im Raum, und es war die Sorte von Stille, die man im Allgemeinen als `Ruhe vor dem Sturm` bezeichnet. Unsicherheit machte sich breit. Manche schauten ratlos ihren Sitznachbarn an, andere waren durch diesen Zwischenruf offensichtlich um ihre gute Laune gebracht. Einer fing an, nervös am Revers seines Jacketts zu zupfen, ein anderer kaute mit starrem Blick auf seiner Unterlippe nervös herum, ein dritter fuhr sich unruhig immer wieder mit der Hand durch das schüttere Haar. Im Raum herrschte nun eine angespannte Atmosphäre, die auf sonderbare Art und Weise um sich griff.

„Ich würde gern wissen, wie der Film weitergeht.“

Die Frau, die das gerufen hatte, war mittleren Alters. Schön anzuschauen war sie: schlank, mit langen dunkelbraunen Haaren und einem fein gezeichneten Gesicht. Sie schien als eine der wenigen im Raum nicht von der plötzlich gekippten Stimmung erfasst worden sein.

„Ich würde gerne wissen, wie der Film weitergeht“, wiederholte sie mit weiterhin ruhiger Stimme, nun allerdings mit etwas mehr Nachdruck. „Das ist eine sehr gute Idee“, pflichtete ihr der Filmvorführer bei, denn er sah das als günstige Gelegenheit an, aus der Ruhe vor dem Sturm nicht den Sturm nach der Ruhe werden zu lassen. Um das Publikum wieder aus dessen apathischer Haltung herauszuholen und in den Dialog einzubinden, fragte er in die Runde: „Was denken Sie, wie könnte der Film weitergehen?“ Sein feistes Grinsen strahlte in den Zuschauerraum, und erleichtert stellte er fest, das Publikum emotional nun wieder in die Spur gebracht zu haben. „Er schreibt weiter“, rief ein erster in Richtung des Fragenden, „Ja, genau. Der schreibt, bis er tot umfällt!“ Der Kommentar des Zwischenrufers ließ die Stimmung im Saal wieder schlagartig nach oben schnellen, und im allgemeinen Gelächter waren noch Beiträge zu vernehmen wie „Vielleicht schreibt er ja was über uns“, „Wenn seine Frau heimkommt, gibt es aber Ärger“, und „Ist doch egal, was der macht – er hat ja eh nichts mehr zu verlieren, hua ha ha ha ha“.

Der Filmvorführer spürte, dass es wieder an der Zeit war, der nun ausufernden Stimmung entgegenzuwirken. „Bitte, bitte…“, er hatte beide Hände erhoben. „…bitte lassen Sie uns nicht vom Thema abweichen.“  Nur allmählich wurde es wieder leiser in der Runde. „Die Frage war doch…“, und um seiner Aussage mehr Gewicht zu verleihen, fing er den letzten Satz noch einmal von vorne an, „…die Frage war doch: wie könnte der Film weitergehen?“

Nun waren alle wieder ruhig und versuchten, durch konstruktive Mitarbeit das Wohlwollen des Filmvorführers zu erlangen. Angestrengtes Nachdenken war in die Gesichter der Anwesenden geschrieben, doch es blieb stumm im Raum.

„27. November“, rief endlich jemand.

„Was?“

„27. November. So geht’s weiter. Sie hatten den Film nach dem 26. November angehalten, also kommt jetzt der 27. November. Richtig?“

Die vormals allgemeine Diskussion hatte sich jetzt in einen Dialog verwandelt. Der Filmvorführer sprach nun die Frau, die `27. November` gerufen hatte, direkt an. 

„Ja, richtig. Sie haben gut aufgepasst. Die Antwort ist also viel einfacher als gedacht.“

Die Gesichter im Publikum hellten sich auf. „Na klar, 27. November“, „Ist doch logisch“ und „Wie denn sonst“ waren dem allgemeinen Gemurmel zu entnehmen. Der Filmvorführer hakte bei der Frau nach, die offensichtlich als einzige ganz allein auf die richtige Lösung gekommen war. Es war dieselbe Frau, die vorher noch gerufen hatte, sie möge gerne wissen, wie der Film weitergehe.

„Darf ich Sie fragen, ob Ihnen irgendein historisches Ereignis zum 27. November einfällt?“

„Ja…. Nein.“, kam es von der Frau zurück.

„Ääähm, ‚ja‘ und ’nein‘ – wie meinen Sie das jetzt?“

„Ich meine, ja – Sie dürfen fragen, und nein – mir fällt nicht ein Ereignis dazu ein. Sondern zwei.“

„Oooh, sehr gut“. Der Filmvorführer rieb sich die Hände. „Und möchten Sie uns diese Ereignisse mitteilen?“

„Der 27. November ist der Geburtstag von Jimi Hendrix. Laut der Musikzeitung Rolling Stone war er der beste Gitarrist aller Zeiten.“

„Vollkommen richtig. Jimi Hendrix, genau. Er ist auch eines der Gründungsmitglieder des Club 27, wenn man das so sagen kann, hi hi hi..… kleiner Scherz…. Und was ist das zweite Ereignis, dass Ihnen zum 27. November einfällt?“

„Das ist der Geburtstag meines Ex-Mannes“, gab die Frau zur Antwort.

„Na, so ein Zufall. Ich hoffe doch, dass ihr Ex-Mann im Gegensatz zu Hendrix noch am Leben ist, oder?“

„Ja, er lebt noch. Soweit ich weiß, geht es ihm gut. Er ist mittlerweile Rentner und hat endlich mal viel Zeit für sein Hobby.“

„Was ist denn sein Hobby?“

„Er macht Musik.“

„Aaaah, das ist sehr schön. Welche Art von Musik denn?“

„Er spielt in einer Jimi Hendrix Tribute Band“