Kapitel 18

30. November

Mitten in der Nacht war er aufgewacht.
Der Wecker zeigte genau zwei Uhr an, und sein erster Gedanke war die Frage, warum er überhaupt noch einen Wecker hatte. Vielleicht, um die noch verbleibende Lebenszeit genau definieren zu können?

Wie albern. Doktor Hansen hatte ihm einen Zeitraum genannt, keinen Zeitpunkt. Es konnte also schon morgen sein, vielleicht übermorgen … vielleicht auch erst in ein paar Wochen. So genau konnte das wohl keiner sagen.

Was kann man denn überhaupt genau sagen?

Sollte man denn überhaupt etwas sagen?

Oder ist es nicht vielmehr so, wie es ein bayerischer Philosoph ausgedrückt hatte, den viele Menschen obskurer weise für einen Komiker hielten? Es war Karl Valentin, der dereinst konstatierte: „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“

Diese Sorte von Logik gefiel ihm, und umgehend versuchte er, ähnliche pointierte Bonmots zu formulieren, was aber nicht so recht gelang, da ihm sein Hang zu endlos langen und verschachtelten Nebensätzen im Wege stand. Sein erster Versuch lautete:

‚Ein Mensch, der einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte, weil er sich das Leben nehmen wollte, ist auf dem Weg zur Brücke, von der er springen wollte, von einem Auto überfahren worden und der daraufhin angeforderte ortsansässige Bestatter, der eigentlich zur Bergung des Leichnams engagiert werden sollte, konnte nicht kommen, da er am selben Tag einen tödlichen Herzinfarkt erlitten hatte, der durch einen Brief über die Kündigung seiner Wohnung verursacht wurde, worüber der Bestatter von einem Immobilienmakler informiert wurde, der aufgrund einer finanziellen Notlage seine eigene Immobilie verkaufen musste, nachdem er dem im gleichen Gebäude praktizierenden Zahnarzt, dessen Gebiss einige Zahnlücken enthielt, ebenfalls gekündigt hatte und der Zahnarzt versuchte, seine Praxis in die leerstehenden Räume im Obergeschoß des Feuerwehrhauses zu verlegen, was aber nicht möglich war, da das Feuerwehrhaus kürzlich abgebrannt war und als Tatverdächtiger der Brandstiftung ein bisher unbescholtener Polizist von seinen eigenen Polizeikollegen verhaftet worden war.’

Hmmm, das war noch nicht ganz so kompakt, wie er es sich gedacht hatte, aber er wollte ja auch kein Aphoristiker werden.  Aber was war es dann, wenn es kein Aphorismus war? Vielleicht ein etwas längeres Bonmot? Oder etwa eine zu üppig ausgestattete Sentenz? Möglicherweise ein aus dem Ruder gelaufenes Aperçu?
Obwohl es sich ebenfalls nur um einen einzigen Satz handelte, konnte sein Schreibversuch es andererseits bei weitem auch nicht mit der ausufernden stream-of-consciousness-Erzähltechnik des Schluss-Monologs der Molly Bloom in James Joyce’s ‚Ullyses’ aufnehmen.

Joyce war Ire. Damit befand er sich nicht nur geographisch betrachtet in der Nähe einiger der ganz großen Literaten: Jonathan Swift, George Bernard Shaw, Samuel Beckett, Roddy Doyle und Christopher Nolan – sie alle waren wie Joyce in Dublin geboren. Und natürlich auch der Schriftsteller, dessen Todestag sich heute jährte: Oscar Wilde.

Wilde war ein Sonderfall in der Kunstgeschichte. Sein hoch entwickeltes literarisches Talent wurde bereits früh erkannt und dementsprechend gefördert. Schon bevor er seine Studien in Oxford mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, war er als feinsinniger und wortgewandter Dichter in Erscheinung getreten und wurde schnell einer der Hauptvertreter des gerade aufkommenden Ästhetizismus. Die durch seine Schriften und Vortragsreisen an ihm bewunderte sprachliche Eleganz und sein extrovertierter Lebensstil trugen zu seinem Ruhm bei. Bei vielen prüden Kritikern und engstirnigen Zeitgenossen im viktorianischen England aber wurde Wilde durch sein dandyhaftes Auftreten und seine zur Schau getragene Langeweile schnell zur Zielscheibe für Hohn und Spott. Als bekannt wurde, dass Wilde trotz Ehe und Vaterschaft von zwei Kindern seinen homosexuellen Neigungen nachging und mit diesen Erfahrungen auch offen und freizügig umging, wurde er dafür zu zwei Jahren Zuchthaus mit schwerer Zwangsarbeit verurteilt. Der entwürdigende Aufenthalt in der Strafanstalt ruinierte seine Gesundheit. Oscar Wilde starb drei Jahre später in Paris.

‚Da hatte man offensichtlich wieder einmal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet’, dachte er sich, während er eine Tasse Tee zubereitete. Was war geschehen, dass man mit einem derart begnadeten Dichter so grobschlächtig umgegangen war? Mit einem Schriftsteller, dessen einziger Roman ‚Das Bildnis des Dorian Gray’ allein schon genügt hätte, ihm einen Platz in der Geschichte der Literatur zu sichern. Im ‚Dorian Gray’, dessen Protagonist auch Züge des Autors Wilde trägt, sind die vorherrschenden Themen Sinnlichkeit, Ästhetizismus und Hedonismus einerseits sowie die dem gegenüberstehenden gesellschaftlichen Normen andererseits: Dekadenz, Willkür und die vielzitierte Moral.

Inzwischen war der Tee fertig, und mit dem ersten Schluck aus der Tasse war in ihm eine grundsätzliche Frage aufgetaucht: Was ist denn eigentlich Moral? Er begann, im Lexikon nach der Wortherkunft zu suchen und seine Ergebnisse dann aufzuschreiben und mit eigenen Gedanken zu ergänzen:

Das Wort ‚Moral’ stammt vom lateinischen Moralis und bedeutet wörtlich übersetzt ‚Sitte’ oder ‚Brauch’. Es bezeichnet damit also lediglich Vorgehensweisen, die üblich sind, sich eingebürgert haben und von der großen Mehrheit der Menschen so akzeptiert werden, wie sie sind – meist ohne hinterfragt worden zu sein. Wenn nun jemand wie Wilde gegen diese Wertvorstellungen einer Gesellschaft oder eines Kulturkreises verstößt, gilt er als amoralisch, als sittenwidrig und als pervers.

Dabei ist Moral selbst kein absoluter Wert. Die Moral ist nur von gesellschaftlichen Konventionen und mehr oder weniger ernsthaft gelebten Normen abhängig. Normen sind aber von Menschen geschaffen und daher immer auch fehlerhaft, unvollkommen, verbesserungsfähig und vor allem: nicht allgemein gültig.

Den angeblichen Verstoß gegen die ach so hehre Moral hatten viele große Denker und Künstler teuer bezahlt – manche davon sogar mit ihrem Leben. Schon Sokrates wurde ein verderblicher Einfluss auf die Jugend und die Ablehnung der vom Staat anerkannten Götter vorgeworfen. Als Konsequenz daraus wurde er hingerichtet – und dass, obwohl es bis dato wohl keinen wegweisenderen abendländischen Philosophen gegeben hatte. Sokrates war kein Lehrer im üblichen Sinne; er hielt keine Reden oder Vorträge. Vielmehr verwickelte er seine Mitmenschen durch zunächst scheinbar simple Fragen in einen Dialog, bei dem er durch gezieltes weiteres Nachfragen seinen Gesprächspartner in eine Position brachte, in der dieser selbst denken musste. Dieses Denken führte die jeweiligen Gesprächspartner meist recht schnell an die Grenzen ihrer intellektuellen Fähigkeiten, was auch Ziel und Absicht des Sokrates war. Es ging ihm nicht darum, seine Mitmenschen bloßzustellen oder zu demütigen, sondern lediglich darum, dass sie sich  ihrer geistigen Begrenztheit bewusst wurden. Dieses philosophische Nichtwissen wird als Aporie bezeichnet und drückt sich am einfachsten in einem Zitat aus, das Sokrates zugeschrieben wird: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

Oder Giordano Bruno: der italienische Philosoph, Dichter und Astronom war zunächst zum katholischen Priester geweiht worden, geriet aber aufgrund seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Marienverehrung schnell in Bedrängnis. Nachdem er der Ketzerei bezichtigt wurde, musste er seine Heimat verlassen und war nahezu den Rest seines Lebens auf Wanderschaft. Nachdem er sich in Genf der protestantischen Kirche angeschlossen hatte, musste er wegen abweichender Lehrmeinungen die calvinistische Kirchenzucht über sich ergehen lassen. Auch seine weiteren Stationen in Frankreich und Deutschland brachten ihm Ärger ein: wegen seiner Fürsprache für das kopernikanische heliozentrische Weltbild wurde er von den Lutheranern exkommuniziert. Trotz seiner brillanten Mnemotechnik und seiner Autorenschaft zweier Bücher über Logik blieben Brunos geistige Fähigkeiten den meisten seiner Zeitgenossen verborgen. Er vertrat bereits im 16. Jahrhundert die These, wonach die Realität der Vorstellung entspringe – eine Ansicht, die später von Gottfried Wilhelm Leibniz und Baruch de Spinoza übernommen wurde. Zu Giordano Brunos Lebzeiten galten solche Ansichten als anstößig und unmoralisch. Schließlich wurde der Philosoph nach langjähriger Haft in Rom auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Seine Bücher wurden auf die Liste der verbotenen Schriften gesetzt – den Index Librorum Prohibitorum.

Nanu?

Spinoza??

Der Index???

Da waren wir doch schon mal
– und:
das ist noch gar nicht so lange her.

Philosophen leben also gefährlich, wenn sie sich mit der Moral anlegen –
oder genauer: mit den Moralisten.

Drehe ich mich inhaltlich im Kreis?

Oder ist es einfach nur so, dass alles mit allem zusammenhängt?

Mittlerweile war es draußen hell geworden, und durch das viele Denken und Schreiben hatte er es wieder einmal versäumt, seinen körperlichen Bedürfnissen ausreichend Aufmerksamkeit zu schenken. Als er aus dem Fenster blickte, fragte er sich, wie viele Menschen in dem kleinen Dorf da unterhalb seines Hügels wohl schon wach wären. Sein Blick schweifte durch den Raum und erreichte den Papierstapel auf dem Tisch. Obenauf lag ein noch unfrankierter, aber bereits zugeklebter Briefumschlag, den er noch nicht abgeschickt hatte. Der Brief enthielt die Kündigung seines Telefonanschlusses pünktlich zum Jahresende und musste daher heute versendet werden. Der Briefkasten war unten im Dorf. Also flugs die Kleider angezogen, eine Briefmarke auf den Umschlag geklebt und auf zur Exkursion in Sachen Post.

Als er die Litfaßsäule in der Nähe des kleinen Ladens passieren wollte, hielt er kurz inne, um nachzusehen, ob es eine neue Nachricht auf der Plakatfläche gab. Und siehe da: er wurde nicht enttäuscht. Als er das dort proklamierte las, musste er leise in sich hinein schmunzeln, denn es passte perfekt zu seinen daheim gerade fertig gestellten täglichen Aufzeichnungen. Die neueste Mitteilung auf der Litfaßsäule bestand aus nur vier Worten, trug aber den geistreichen Schalk der von ihm geschätzten Verbal-Paradoxie in sich. In schwarzen Lettern war zu lesen: