Kapitel 19

1. Dezember

Am nächsten Tag verspürte er den Drang, aufzuräumen.

Seine Sachen aufzuräumen. Das Haus aufzuräumen. Seine Gefühlswelt aufzuräumen. Das Leben aufzuräumen.

Er war nicht plötzlich zum Ordnungsfanatiker mutiert, nein, das nicht. Auch hatte er sich nicht mit materiellen Dingen von seiner eigentlichen Absicht – dem Schreiben – ablenken wollen. Nur kam allmählich das Verlangen in ihm auf, anderen Menschen die Sachen zurückzugeben, die sie ihm vor langer Zeit geliehen hatten. Bücher, CDs und DVDs waren die häufigsten dieser unter Freunden ausgetauschten Objekte. Also ging er hinüber ins Wohnzimmer und ließ seinen Blick über die Regale schweifen. Das, was er als Ansammlung von Zeugnissen der künstlerischen Schaffenskraft seiner Lieblingsmusiker, seiner bevorzugten Autoren und der von ihm favorisierten Regisseure betrachtete, muss für andere Menschen wohl wie ein Chaos gewirkt haben. Also wollte er damit beginnen, die herumliegenden Tonträger und Filme zu sortieren, indem er sie nach Alphabet geordnet in die zahlreichen entstandenen Lücken im Regal einräumte.

Für einen Moment stutzte er bei der Überlegung, ob in dem Regal wohl mehr sortierte CDs und DVDs oder Lücken zwischen eben diesen Datenträgern waren. Bei der Archivierung seiner Musik- und Filmhabseligkeiten war er in früheren Jahren äußerst präzise und penibel gewesen. Er hatte immer den ersten Buchstaben vom Nachnamen des jeweiligen Künstlers als Merkmal zur Katalogisierung verwendet, was bei den Pop-, Rock- und Jazz-CDs seiner frühen Jahre auch unproblematisch war.

Etwas schwieriger gestaltete es sich da schon mit der Klassik, denn statt nach Orchestern, Solisten oder Ensembles zu ordnen, entschied sich dazu, immer den ersten Buchstaben vom Nachnamen des Komponisten zu verwenden: Debussy kam vor Hindemith, Ligeti stand links von Messiaen und Strawinsky fand man vor Tschaikowski. Waren die Anfangsbuchstaben identisch, ging es nach dem zweiten Buchstaben: Beethoven kam vor Boulez, Pärt stand links von Penderecki, und Satie kam vor Schönberg. Sollten gar die ersten beiden Buchstaben gleich sein, entschied der nachfolgende Buchstabe über die Platzierung: auf Brahms folgte Bruckner, und Rachmaninoff kam vor Ravel. Und selbst eine Übereinstimmung der ersten drei Buchstaben bereitete ihm keine Probleme: erst Barber, dann Barkauskas, und danach Bartok. Das System war sogar so ausgereift, dass es wie selbstverständlich Weber vor Webern platzierte. Genial!

Genial?
Was soll daran denn genial sein?

Es ist auch nicht präzise oder penibel – es ist einfach nur pedantisch.

So war er also dereinst gewesen: ein Pedant.

Es war ihm peinlich. Nicht deshalb, weil er sich durch seine kleingeistige Sortiererei schlechter fühlte, sondern weil er so viel Zeit seines Lebens damit verbracht hatte, etwas Nutzloses zu tun. Natürlich ist es hilfreich, beim Suchen einer CD zu wissen, dass sich das Werk von Markus Stockhausen nach dem Oeuvre seines Vaters Karlheinz Stockhausen und noch vor den CDs seines Halbbruders Simon Stockhausen im Regal befindet, aber: ist das wichtig?

Außerdem hatte er gar keine CDs von irgendeinem der Stockhausens. Das ganze Unterfangen ist also nicht nur nutzlos, sondern sogar sinnlos. Um erhobenen Hauptes aus der misslichen Lage herauszukommen, beschloss er also, mit verschlossenen Augen in den unüberschaubaren und wild durcheinander liegenden Haufen aus CDs und DVDs zu greifen, und dann das erste, was er in die Finger bekam, in das Regal einzusortieren.

Ganz schlicht.

Ganz einfach.

Ganz wie damals.

Ganz schön blöd.

Da der Haufen unüberschaubar war, konnte er die Augen ja auch getrost offenlassen, denn ob man nun mit geöffneten oder geschlossenen Augen nichts überschauen kann, ist ja eigentlich egal. Also griff er in das Durcheinander, versuchte irgendetwas zu ergattern und zog dann eine DVD-Hülle heraus.

Zu seiner eigenen Verwunderung war es ein Film von Woody Allen. Nanu? Ist das meine DVD? Von Woody Allen hatte er kaum etwas zu Hause, denn die Filme des amerikanischen Regisseurs, Schauspielers, Drehbuchautors und Jazz-Musikers hatte er sich immer lieber im Kino angesehen. Wahrscheinlich, weil Allens Filme auch oft genug auf das Kino selbst Bezug nahmen. Unvergesslich die Kino-Szene in ‚The Purple Rose of Cairo’: ein Darsteller auf der Leinwand (Jeff Daniels) erblickt im Publikum eine Frau (Mia Farrow), die sich den Film immer und immer wieder ansieht, und dann tritt er plötzlich aus der Leinwand heraus, um ins Publikum zu gehen und mit der angesprochenen Frau aus dem Theater einfach zu verschwinden. Ganz großes Kino!

Neben ungefähr einem neuen Film jedes Jahr produzierte der Hobby-Klarinettist Allen noch eine ganze Reihe von Büchern und Drehbüchern – alle geschrieben auf einer Schreibmaschine aus dem Jahr 1952. Kein Wunder, dass er bei diesem Arbeitspensum keine Zeit oder vielleicht auch keine Lust mehr auf die Entgegennahme von Auszeichnungen hatte. So zog er es am Abend der Oscarverleihung vor, lieber mit der Eddy Davis New Orleans Jazz Band aufzutreten als in Hollywood auf einem albernen roten Teppich herumzulaufen, der komischerweise immer vor einer Wand platziert war, auf der ein Werbe-Logo neben dem anderen prangte. Allein dafür schon musste man Woody Allen Respekt zollen, und es ist bemerkenswert, dass er trotz seiner offenen Ablehnung gegenüber der sogenannten Traumfabrik insgesamt bereits viermal mit dem begehrtesten Filmpreis ausgezeichnet worden war.

Er drehte das DVD-Cover um und begann zu lesen:

„Woody Allen, geboren am 1. Dezember 1935 in Brooklyn, New York, hat mit diesem Meisterwerk…“

Moment.

1. Dezember? Das ist ja heute…. na, so ein Zufall…. oder eben kein Zufall? Von wem hatte er eigentlich diese DVD geliehen?

Im Laufe seines Lebens hatte er Unmengen an Hörens-, Sehens- und Lesenswertem mit Freunden und Bekannten ausgetauscht. Am Anfang noch Vinyl-Schallplatten und VHS-Videobänder, später dann CDs und DVDs, immer und immer wieder Bücher… aber jetzt hatte er nicht die leiseste Ahnung, an wen er diesen Film zurückgeben müsste. Über die Jahre hatten sich einige dieser nicht zurückgegebenen Dinge bei ihm angesammelt, und er hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber den Eigentümern entwickelt, deren Identität ihm leider entfallen war.
Andererseits müsste seine Sammlung von Tonträgern, Filmen und Büchern eigentlich noch viel größer sein, denn oft hatte er seine eigenen Sachen verliehen mit Hinweisen wie „Den Film musst du dir unbedingt ansehen. Der ist grandios!“, „Du kennst die Band gar nicht? Nimm die CD mal mit – absolut hörenswert!“ oder „Ich habe das Buch gelesen, es ist großartig! Ich kann es dir ja mal ausleihen. Es ist zwar ziemlich umfangreich, aber – lass dir Zeit. Auf jeden Fall solltest du das irgendwann mal gelesen haben. Hier!“

Den Hang, seinen – nach eigenem Ermessen – guten Geschmack auch seinen Freunden und Bekannten zugänglich zu machen, teilte er mit vielen anderen Menschen. Auch wenn sich sein Geschmack im Laufe der Jahre änderte und viele der künstlerischen Werke, die er in früheren Jahren als überragend, bahnbrechend oder epochal erachtet hatte, ihm mittlerweile nichts mehr bedeuteten oder sogar zuwider waren: Durch das viele Ausleihen ohne Rückgabe und Verleihen ohne Rücknahme kam er zu dem Schluss, dass die Summe der zu Unrecht einbehaltenen fremden Dinge und die Summe der zu Unrecht nicht mehr wieder erhaltenen eigenen Dinge sich wohl ziemlich genau die Waage hielten. Wer sagt denn da noch: ‚Two wrongs don’t make a right?‘ Wahrscheinlich war es egal – und zwar ‚egal’ im Sinne der eigentlichen Bedeutung des Wortes:
es war gleich.