Kapitel 23
5. Dezember
‚Wer seiner Zeit zu weit voraus ist, den erreichen die Apologeten der Vergangenheit nicht. Wer den Kopf zu weit aus der Menge heraushebt, der wird schnell auch um einen Kopf kürzer gemacht. Nur wenigen gelingt es, mit ihren bahnbrechenden Neuerungen auch die Akzeptanz der weniger talentierten, der mittelmäßigen und derer zu erreichen, die den Begriff der Tradition völlig missverstanden haben: Tradition bedeutet, das wärmende Feuer weiterzugeben. Tradition bedeutet nicht, die erkaltete Asche anzubeten. Der Mann, der hier ganz in der Nähe geboren wurde, musste ein Schock für die Traditionalisten seiner Zeit gewesen sein: Er hatte die Überlegungen des Physikers Max Planck aufgegriffen und innerhalb kürzester Zeit so umfassend weiterentwickelt, dass selbst sein als Genie gepriesener Kollege Albert Einstein von seiner ironischen Bemerkung „Gott würfelt nicht“ Abstand nehmen musste. Der Mann, der im Alter von nur 31 Jahren den Nobelpreis für Physik verliehen bekam, hatte seine Entdeckungen zunächst selbst nur schwer fassen können und hatte diese daher mit den führenden Physikern seiner Zeit erörtert: Niels Bohr, Max Born und Wolfgang Pauli waren allesamt Kollegen, die ebenfalls Nobelpreisträger waren und daher geradezu prädestiniert, mit ihm auf Augenhöhe zu diskutieren. Der Mann, dessen Geburtstag sich am heutigen fünften Dezember jährt, kann getrost als einer der größten Wissenschaftler aller Zeiten bezeichnet werden: Werner Heisenberg.
Seine Beiträge zur Quantenmechanik, die er als erster mathematisch formulierte und die schließlich zu der nach ihm benannten Unschärfe-Relation führten, setzten Maßstäbe in dieser damals noch relativ jungen Disziplin, die schließlich das Ende der klassischen Physik im Sinne von Isaac Newton einläutete. Die Theorie der Elementarteilchen und die Feststellung, dass sich Ort und Geschwindigkeit der kleinsten Teile der Materie nicht wie bisher angenommen vorausberechnen lassen, sondern dass erst der Vorgang der Berechnung eine Berechnungsgrundlage schafft, klang zunächst abwegig. Das Teilchen ist eine Welle? Wie bitte? Das war neu. Die daraus gezogenen Schlussfolgerungen haben aber nicht nur enorme Erfindungen wie den Laser, das Elektronenmikroskop und die Kernspinresonanz im Bereich der Medizintechnik nach sich gezogen, sondern als Nebenprodukt in der Halbleiterforschung den Transistor und die Diode ermöglicht, ohne die die moderne Elektronik nicht möglich wäre. Aber auch in der Quantenmechanik gilt: keine Wirkung ohne Nebenwirkung – die Entwicklung von Kernwaffen hätte ohne die Konzepte der Quantenmechanik nicht stattfinden können.
Sind also Heisenberg und seine Kollegen am Ende für Hiroshima und Nagasaki verantwortlich? Ist das immer weiter ausufernde atomare Wettrüsten auf die verantwortungslose Neugier der Quantenphysiker zurückzuführen? Ist die Tatsache, dass die Menschheit mittlerweile über die Möglichkeit verfügt, sich selbst und ihren gesamten Planeten innerhalb kürzester Zeit komplett zu zerstören, nur auf die Kurzsichtigkeit und Unbedarftheit einer Hand voll Forscher zurückzuführen?
Nein, nein, und nochmals nein. Die menschliche Unzulänglichkeit, eine technische Errungenschaft statt zum Nutzen aller lediglich zur Zerstörung anderer Mitgeschöpfe zu verwenden, hat Methode und ist seit jeher eines der charakteristischsten Merkmale der Menschheit. Schon in Heisenbergs jungen Jahren hatte man erkannt, dass die erst kurz vorher konzipierten Flugzeuge sich nicht nur dazu eigneten, friedlich den Luftraum zu erobern, sondern auch aus eben jenem Luftraum heraus dem vermeintlichen Feind den Garaus zu machen. Auch die Erfindung von Wasserfahrzeugen wie Schiffen und Booten zog unmittelbar eine militärische Nutzung eben jener nautischen Fortbewegungsmittel nach sich. Schon die Zähmung von Wildpferden hatte sogleich berittene Streitkräfte zur Folge. Vermutlich zog sich diese destruktive Art des Missbrauchs eigentlich nützlicher und wohlmeinender Erfindungen seit je her durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Es ist ein leichtes, sich vorzustellen, dass die Erfindung des Rades zuerst nicht an einem Wagen zum Krankentransport angewendet wurde, sondern wahrscheinlich eher für ein fahrbares Geschütz konstruiert wurde.
Sind denn nun aber die Luftfahrtpioniere Gebrüder Wright an den B52 Langstreckenbombern der US-Army schuld? Kann man denn den Computerkonstrukteur Konrad Zuse für die Hacker-Angriffe des 21. Jahrhunderts haftbar machen? Ist der Schweizer Chemiker Albert Hofmann mit seiner eigentlich als Medikament konzipierten Erforschung LSD verantwortlich für alle Drogentoten weltweit?
Auch hier: nein, nein und nochmals nein. Für den Missbrauch einer Erfindung ist nicht der Erfinder zuständig, sondern der Missbrauchende. Das eigentlich Tragische ist aber, dass nicht nur der Erfinder beziehungsweise Entdecker diskreditiert wird, sondern die Opfer des Missbrauchs sich ihrer Opferrolle oft auch gar nicht bewusst sind. Leider gab es diese Fehlentwicklungen auch im Bereich der Quantenmechanik zuhauf. Dass Heisenberg die katastrophalen Folgen der militärischen Nutzung der Quantenmechanik selbst stets zu verhindern versucht hatte, wurde auch durch das Göttinger Manifest dokumentiert. Es war dem Physiker vor allem um eine veränderte Wahrnehmung der Folgen seiner Erfindung gegangen: wie Heisenberg in seiner Autobiographie ‚Der Teil und das Ganze’ zu verstehen gab, sah er die eigentliche Herausforderung der Folgen der Quantenmechanik nicht nur im technischen Bereich, sondern auch und vor allem auf der philosophischen Ebene. Heisenberg vertrat die Ansicht, dass die philosophischen Konsequenzen aus der Atomphysik auf die lange Sicht wohl noch mehr verändern werden als die technischen Konsequenzen. Einige Probleme sehen jetzt ganz anders aus, zum Beispiel das Verhältnis von Naturwissenschaft zur Religion, oder, allgemein gesagt: zur Weltanschauung. Selbst in der Atomphysik sieht die Beziehung zwischen Subjekt zu Objekt jetzt nicht mehr so einfach aus wie in der klassischen Physik.
Dass Heisenberg ein mehr als passabler Pianist war und Zeit seines Lebens immer auch die Parallelen zwischen Kunst und Wissenschaft betrachtete, ist umso mehr Zeugnis der Annahme, dass es eine direkte Verbindung zwischen dem Intellekt und der Intuition geben könnte.’
Er lehnte sich zurück. Die Erwähnung von Werner Heisenberg in seinen Aufzeichnungen erachtete er als Ehre – und zwar als Ehre für sich. Was waren das eigentlich für Aufzeichnungen? Konnte man es Memoiren nennen? Eigentlich nicht, denn er wollte nicht nur erinnern, sondern auch vorausschauen, egal wie viel oder wie wenig noch vor ihm lag. War es ein Tagebuch? Die kalendarischen Einträge irgendwie schon, aber es ging ja nicht nur um seinen Tag, sondern um die Würdigung derer, die ihn mit ihrem Leben und Wirken tief beeindruckt hatten. Konnte man es Autobiographie nennen? Dazu war es für den externen Leser wohl zu bruchstückhaft und zu wenig chronologisch. Die Fakten über Heisenbergs Leben und Werk konnte man auch überall sonst nachlesen, und die Verknüpfung mit seinen eigenen Gedanken, mit seinen Interpretationen und Meinungen musste einem anderen Leser doch mindestens subjektiv, vielleicht sogar willkürlich, im schlimmsten Falle auch narzisstisch vorkommen. Wäre sein Geschriebenes denn dazu tauglich, den Nachgeborenen einen Einblick in seine Weltsicht, seine Vorlieben und seine Abneigungen zu geben? Wenn es als Buch nichts taugte, vielleicht könnte man dann ja mit einem in der Lesung beschlagenen Rezitator noch ein passables Hörbuch daraus machen? Oder mit einem geduldigen und kreativen Audioproduzenten ein gelungenes Hörspiel aus seinem Manuskript formen? Aber wer will heute schon noch stundenlang zuhören. Denkbar wäre es auch, eine Website zu bauen und das jeweils tagesaktuelle Kapitel um null Uhr zu veröffentlichen, damit es wie ein Fortsetzungsroman chronologisch erscheint. Möglicherweise könnte ein geschickter Drehbuchautor ein griffiges Script daraus formen, und irgendwann würde ein talentierter und motivierter Regisseur einen Film daraus machen? Aber wer wollte oder sollte so einen Film sehen? Vielleicht konnte man sein Werk auf diese Art und Weise als Anschauungsmaterial nutzen. Als Aufruf zu oder Warnung vor irgendetwas. Dazu bräuchte sein Buch aber eine Aussage, eine Message, eine Position, oder besser noch: einen Sinn.
„Was macht denn der Schreiberling da eigentlich?“
„Na ja, ich würde sagen, er übt sich in Vergänglichkeit.“ Heiterkeit erfüllte den Raum, und alle Nuancen vom verschmitzten Kichern bis zum lauthalsen Lachen waren vernehmbar.
„Aber, aber …. ich muss doch sehr bitten. Etwas mehr Seriosität würde ich mir von den Kolleginnen und Kollegen schon wünschen!“ Das heitere Moment war vergangen, und schlagartig herrschte wieder die kühle und konzentrierte Arbeitsatmosphäre. „Also, ich fasse noch mal zusammen: Auch wenn uns – sozusagen als Spezialisten auf dem Gebiet des menschlichen Geistes – das Verhalten dieses Protagonisten manchmal schwer nachvollziehbar erscheinen mag, so sollten wir seine besondere Bedeutung für unsere Forschungen nicht außer Acht lassen. Aus diesem Grund haben wir auch den Filmvorführer mit seiner Gruppe zwischengeschaltet – eine Versuchsanordnung innerhalb einer Versuchsanordnung, ja, so könnte man das stark vereinfacht bezeichnen. Hieran erkennen Sie auch exakt sowohl das Potenzial wie auch das Risiko der Falsifikation: unser Autor ist scheinbar kein Akademiker und kommt meist über den Status eines interessierten Laien nicht hinaus. Ähnlich verhält es sich mit unserer Filmgruppe: Sie wähnt sich im Verständnis der Situation, hat aber die Grundzüge des Zusammenspieles von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft nur ansatzweise verinnerlicht. Eine sachgerechte Diskussion über die Heisenberg’sche Unschärferelation ist daher nicht um der Theorie der Sache selbst relevant, sondern um deren praktischer Wirkungsweise. Sollte es unserer Filmgruppe gelingen, das Betrachten des Filmes nicht ausschließlich als schnöden und bisweilen interessanten Zeitvertreib zu erkennen, ist der Schritt zum nächsten Level in greifbare Nähe gerückt.“
Der Monolog wurde unterbrochen, und die nun hochaufmerksamen Spezialisten in der Runde um den Tisch im Besprechungsraum klinkten sich verbal ein. „Also wenn ich Sie recht verstanden habe, Herr Direktor, dann erhoffen – will sagen: erwarten – Sie eine Art Bewusstseinssprung in unserer Filmgruppe?“
„Das wäre in der Tat wünschenswert. Ob es gelingt, hängt jedoch auch von äußeren Faktoren ab.“
„Sie meinen, inwiefern es dem Schreiber im Film gelingt, seinen Bewusstseinszustand zu erweitern, Herr Direktor?“
„Ja, und Heisenberg ist der Schlüssel hierzu. Sollte es unserem Autor gelingen, sich selbst als ‚Der Teil und das Ganze’ zu begreifen, so könnte doch unsere Filmgruppe das als Analogie zu ihrer eigenen Existenz auffassen und entsprechend dem Modell des Teilchens und der Welle ihren eigenen Aufenthaltsort als eigentlich bekannt missverstehen und erst durch die freie und scheinbar unkoordinierte Bewegung ihr energetisches Potential entfalten.“
„Oh, ich denke, ich verstehe, Herr Direktor. Das würde dann auch erklären, warum denn der Protagonist mit der überschaubaren Lebenserwartung beim Skypen der Auffassung war, den Satz ‚das ist aber von Wittgenstein’ gehört zu haben, der in der Filmvorführung gefallen ist und den er somit eigentlich gar nicht hätte vernehmen können, ja?“
„Genau das hatte ich mich auch schon gefragt“, pflichtete dem Fragenden jetzt eine weitere Person in der Runde zu, „dass sich die verschiedenen Ebenen vermischen, war ja irgendwie zu erwarten, aber eigentlich nur aufwärtskompatibel.“
„Was meinen Sie mit aufwärtskompatibel?“ gab der Direktor zurück.
„Nun, ich meine, dass der dem Tod geweihte Mann ein Buch schreibt, das Gegenstand eines Filmes ist, der wiederum von einer Gruppe Menschen betrachtet wird, ist ja noch plausibel. Aber, so fragte ich mich, wie kommt denn ein Zwischenruf in der Filmvorführung nun plötzlich in die reale Handlung des Skypens hinein?“
„Wenn das wirklich Ihre Frage ist, Frau Kollegin, dann muss ich mich doch fragen, wie Sie Mitglied dieser Runde sein können.“ Eine eisige Stille erfasste den Konferenzraum, denn die Zurechtweisung durch den Direktor hätte schärfer kaum ausfallen können. „Kann jemandem hier in der Runde der Kollegin bitte auf die Sprünge helfen? Die junge Frau ist zwar erst Doktorandin, aber ein gewisses Maß an fundierten Grundkenntnissen unserer Forschung hatte ich eigentlich vorausgesetzt. Also?“ Keine Hand rührte sich. Alle blickten betreten zu Boden, um dem strengen Blick des Direktors auszuweichen „Jetzt bin ich aber doch erstaunt“ fügte der hinzu. „Also folgendes: Wir erheben die Beantwortung dieser Frage zur Hausarbeit. Wir treffen uns morgen wieder – selbe Zeit, selber Ort. Und ich erwarte eine schlüssige Antwort von Ihnen.“