Kapitel 24
6. Dezember
„Herzlich willkommen zu unserem Treffen“, rief der Filmvorführer gutgelaunt in die Runde. „Heute habe ich etwas ganz Besonderes für Sie, denn am heutigen 06. Dezember hat unser Hobby-Autor sich als historische Bezugsgröße den Schweizer Psychologen, Graphologen und Schriftsteller Max Pulver ausgesucht. Schauen wir doch mal, was er so schreibt.“ Der Filmvorführer schaltete den Beamer an, und man sah eine Hand mit Füllfederhalter, die folgendes zu Papier brachte:
‚Max Pulver hatte Philosophie und Psychologie studiert, dazu noch Geschichte. Er beschäftigte sich später eingehend mit der Lehre von der Handschrift als Ausdruck des Charakters. Die Erkenntnis, dass man aus dem Schriftbild auf bestimmte Bereiche der Persönlichkeit Rückschlüsse ziehen konnte, war seinerzeit recht neu. Während Pulvers Kollegen Ludwig Klages und Rudolf Pophal die Aspekte Darstellung und Ausdruck beziehungsweise neurologische und psychiatrische Motive untersuchten, war seine Herangehensweise durch die Tiefenpsychologie bestimmt. Pulver hatte eine sogenannte Raumsymbolik entwickelt, die von den Auslenkungsrichtungen der Schrift auf eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur schließen ließ. Pulver war der Ansicht, dass die Richtung rechts für die Zukunft und das „Du“ stünden, während die Richtung links für die Vergangenheit und das „Ich“ kennzeichnend seien. Des Weiteren erachtete er die obere Zone der Handschrift als den intellektuellen und geistigen Bereich, wohingegen er den unteren Bereich als Projektionsfläche für Materialismus und Vitalität betrachtete:
Pulver war auch mit weiteren Literaten und Psychiatern seiner Zeit im regen Austausch. Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin gehörten während Pulvers Zeit in München dazu, und nachdem er 1924 in die Schweiz zurückgekehrt war, verkehrte er im Kreis um Carl Gustav Jung.‘
„Pulver stand auch mit bedeutenden Zeitgenossen in Kontakt. Der Herr in unserer Runde, dem Husserl so am Herzen liegt, weiß ja wohl bereits von dem Einfluss, den der philosophierende Mathematiker Husserl mit seiner Phänomenologie auf den dichtenden Handschrift-Experten Pulver hatte, oder?“
„Ja, in der Tat. Dennoch würde mich zunächst interessieren, wer in der letzten Film-Sequenz dreimal an der Haustüre des Schreibenden geklingelt hat?“
„Aaah, sehr gut aufgepasst. Kann jemand in der Runde hier dem Herrn vielleicht einen Tipp geben?“ Es meldete sich die Frau, die bereits durch ihre rege Anteilnahme am Geschehen positiv aufgefallen war.
„Das war ja bereits am dritten Dezember. Am fünften widmete er sich Werner Heisenberg, und heute haben wir es mit Max Pulver zu tun. Über den vierten Dezember wissen wir aber nicht viel. Daher vermute ich, dass seine Heisenberg-Episode eingeschoben war, um die offene Situation zwei Tage vorher als Beweis der Richtigkeit der Annahme zu werten, dass ein scheinbar fixer Punkt in Wahrheit eine Wellenbewegung sei.“
„Das ist eine interessante Theorie. Aber bitte bedenken Sie auch, dass unser Möchtegern-Schriftsteller das Klingeln ja wirklich gehört hat und sich daraufhin ja auch Richtung Haustüre bewegt hat.“
„Was spielt das für eine Rolle? Wir wissen ja, dass er am 05. Dezember über Heisenberg und am darauffolgenden Tag – also praktisch heute – über Max Pulver geschrieben hat. Also war das an der Haustüre schon mal nicht sein Mörder.“ Der Mann, der diese logische Schlussfolgerung zum Besten gab, war offensichtlich kein Scherzbold, auch wenn die restlichen Filmbetrachter sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnten. Es war der Husserl-Spezialist, und der Filmvorführer pflichtete ihm bei:
„Ich denke ebenfalls, dass es nicht von Belang ist, wer an der Türe geklingelt hat. Wir erfahren durch den Film immer nur Ausschnitte aus dem Leben dieses Mannes. In den Passagen, die wir nicht sehen – seine restliche Zeit des Tages oder der Nacht – könnte alles Mögliche passieren oder passiert sein. Dazu gehört auch die Option, dass er gestorben ist oder ermordet wurde; wir wissen es einfach nicht. Alles, was wir wissen, ist das, was wir im Film sehen, richtig? Ich plädiere daher dafür, uns an diesen Fakten zu orientieren und die unklaren Dinge auszusparen – zumindest zunächst.“ Nun schaltete sich die Frau wieder in die Diskussion ein:
„Ich empfinde es als höchst unbefriedigend, dass in dem Film einerseits Fährten gelegt werden, die nicht weiterverfolgt werden und andererseits die Beantwortung zentraler Fragen ausgespart wird. Das führt uns maximal zu der Erkenntnis, dass eigentlich immer alles Mögliche passieren könnte.“
„Brillanter Gedanke“, warf der Filmvorführer ein, „und daher ist das, was wir hier sehen, nur eine von unzählig vielen Möglichkeiten dessen, was alles sein könnte. Das unterscheidet sich nicht fundamental von dem, was tatsächlich ist. Es stellt lediglich eine einzelne Variante dessen dar, und unser Autor entscheidet täglich – ach was, stündlich – nein, eigentlich muss man sagen, immer und jederzeit, was geschehen wird. Er ist also sozusagen der Regisseur in unserem Film.“