Kapitel 25

7. Dezember

„Unsere Frage lautete:
‚Wie kommt denn ein Zwischenruf in der Filmvorführung nun plötzlich in die reale Handlung des Skypens hinein?‘
Und nachdem keiner von Ihnen in unserem gestrigen Meeting eine schlüssige Antwort geben konnte, hatte ich Ihnen ja einen weiteren Tag Bedenkzeit gegeben. Daher erwarte ich nun Ihre Ergebnisse.
Also?“

Der Blick des Direktors schweifte in die Runde, und zunächst schien sich niemand so recht hervorzutun, der zur Lösung dieses Problems beitragen wollte. Mit verschränkten Armen stand er vor der Gruppe: Rasierter Kopf, strenge Gesichtszüge, drahtiger und durchtrainierter Körperbau. Äußerlich scheinbar still betrachtete er die Anwesenden, aber innerlich begann es in ihm zu brodeln. „Jetzt bin ich aber doch etwas überrascht“, gab er der Runde leise zu verstehen. „Alle hier im Raum Anwesenden, die später einmal Führungsaufgaben in hochkomplexen Sachgebieten wahrnehmen möchten, scheitern an der Beantwortung solch einer simplen Frage?“ Wiederum musterte er die im Raum Anwesenden, deren peinliche Berührtheit in quälend langen Sekunden des allgemeinen Schweigens Ausdruck fand. „Sieh an, sieh an…“ Der Direktor atmete lang und tief durch die Nase ein. Er legte seinen Kopf in den Nacken, gerade so, als ob er die Decke des Raumes inspizieren wollte, hielt die Luft einen Moment an und atmete aus, indem er mit einem leisen nonverbalen Geräusch den Kopf wieder nach unten senkte. „Hmmm hmmm hmmm…. das ist also unsere zukünftige Elite …. wie peinlich!“

Ein neutraler Beobachter hätte sein Gebaren als arrogant deuten mögen, aber es war dem Direktor ernst, als er noch mal von vorne begann – diesmal noch kaum vernehmbar: „Meine Damen und Herren, es ist ja nicht so, dass ich von Ihnen einen von A bis Z ausgearbeiteten und in allen Punkten verifizierten Lösungsansatz erwartet hätte… aber dass niemand in dieser Runde auch nur eine Idee äußern kann oder will, befremdet mich doch sehr.“ Hätte er diese Worte hinaus gebrüllt, so hätte man ihn als cholerische und herrische Führungspersönlichkeit wahrgenommen. Die Tatsache aber, dass er sehr leise, überlegt und beinahe flüsternd seinen Unmut über den Verlauf des Meetings kundgetan hatte, war viel eindringlicher und bedrohlicher als es eine lautstarke und aggressive Äußerung hätte sein können.

„Nun, ich hätte da einen Vorschlag“. Die Worte aus der hinteren Ecke des Raumes lösten die angespannte Stille auf.

„Sieh an, sieh an.“ kam es vom Direktor zurück. „Würden Sie uns Ihren Vorschlag mitteilen?“

„Gerne. Nun, ich gehe davon aus, dass wir zur Erörterung dieses Sachverhaltes die beiden Ebenen nicht logisch-kausal und daher in zeitlich serieller Anordnung betrachten sollten, sondern die Filmvorführung und das Skype-Gespräch unseres Protagonisten als parallele Ereignisse in verschiedenen Räumen denken sollten, die zur gleichen Zeit – also quasi synchron – stattfinden.“

„Mhmmmm, interessant.“ Der Direktor war von diesem Vorschlag sichtlich angetan, aber noch nicht vollends überzeugt. Daher erbat er sich weitere Details. „Können Sie das präzisieren?“

„Nun, ich werde es gerne versuchen. Allerdings möchte ich mich hierzu einer Hilfskonstruktion bedienen.“

„Ganz wie Sie möchten“, entgegnete der Direktor, „dann konstruieren Sie doch mal bitte für uns.“

„Danke. Ich setze zunächst dort an, wo das Problem auftaucht, nämlich bei unserem Tagebuch-Verfasser. Am heutigen Tage notierte er:

’07. Dezember. Heute ist der Geburtstag von Tom Waits.
Die Musik dieses amerikanischen Sängers und Pianisten hat mich in meiner Jugend viele Jahre begleitet. Seine kratzige Stimme, seine sparsamen Arrangements und vor allem die melancholisch-depressiven Texte über reichlich Alkohol, unerreichbare Frauen und rastlosem Umher-Vagabundieren in seinem Frühwerk haben mich damals sehr angesprochen – vermutlich, weil auch ich damals von reichlich Alkohol, unerreichbaren Frauen und rastlosem Umher-Vagabundieren schon ganz melancholisch und depressiv geworden war. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich den reichlichen Alkohol, die unerreichbaren Frauen und das rastlose Umher-Vagabundieren hinter mir lassen konnte. Geholfen hatte mir dabei seltsamerweise auch die Musik von Tom Waits‘ Lebensgefährtin, der als ‚Duchess of Coolsville‘ titulierten Singer-Songwriterin Rickie Lee Jones. Rickies Musik hatte einen nachhaltigen Einfluss auf mich ausgeübt. Vielleicht hätten die von mir hochverehrten Steely Dan so geklungen, wenn sie statt Donald Fagen eine Sängerin gehabt hätten. Wie dem auch sei, die Präsenz von Rickie Lee Jones hat mich sogar bis in meine Träume verfolgt, und das sogar noch Jahrzehnte nach ihren grandiosen beiden ersten Alben RLJ und Pirates.‘

Hier fiel ihm auf, dass er das Thema Träume zum ersten Mal in seinen Aufzeichnungen verwendete. Über Robert Louis Stevenson und dessen vermeintlichen Albtraum hatte er ja schon etwas notiert, aber seine eigenen Träume? Johann Sebastian Bach hatte den Tod als Schlafes Bruder charakterisiert, und wenn man zum Träumen sich im Schlaf befand, war man also auch nicht weit vom Tod entfernt. Dr. Hansen hatte ihm mitgeteilt, dass auch er nicht weit vom Tod entfernt sei. Hatte er also sein Leben nur geträumt?

Schwer zu sagen.

Sein Traum von Rickie Lee Jones, den er vor ein paar Jahren hatte, ging so:

‚Die Sängerin und Pianistin Tori Amos hat auf ihrer Website eine Rubrik, auf der man sich während ihrer Tourneen ein Lied wünschen konnte. Mit etwas Glück konnte man beim Konzertbesuch feststellen, dass Tori den Wunsch erfüllte und an diesem Abend das Stück spielte, das man auf der Website eingetragen hatte. Etwas ähnliches, aber noch viel cooleres konnte man – zumindest in meinem Traum – auf der Website von Rickie Lee Jones tun: Rickie bot an, an konzertfreien Abenden während ihrer Tour einen Wohnzimmer-Gig zu spielen: der Teilnehmer trug sich auf RLJs Website ein, und wurde man ausgewählt, dann kam Rickie vorbei und gab im Wohnzimmer des Ausgewählten ein kleines Privatkonzert. Also hatte ich mich eingetragen, und siehe da: Ich wurde per Mail informiert, dass Frau Jones nächsten Montagabend vorbeikommen würde, um zwischen ihrem Sonntags-Gig in Zürich und dem Dienstags-Konzert in Frankfurt einige ihrer Songs in meinem Wohnzimmer zum Besten zu geben – einfach so, sich selbst begleitend an meinem alten Haberstroh-Klavier, unplugged und natürlich kostenlos. Schnell also das Klavier noch mal stimmen lassen, die engsten Freunde eingeladen und dann harren der Dinge, die da kommen sollten. Am Montagabend waren dann ungefähr 15 Leute in meinem Wohnzimmer versammelt, und alle waren natürlich gespannt. Kurz vor acht klingelte es, und mit pochendem Herzen ging ich zur Haustür, räusperte mich kurz, öffnete die Tür, und da stand – ein Mann.

Ich fragte ihn, wer er sei und was er wolle, denn ich kannte ihn nicht und er war auch keiner der geladenen Gäste. Seltsam sah er aus, wie eine Promenadenmischung aus Weird Al Yankovic und Atze Schröder, die ich beide nicht besonders witzig finde. Er antwortete: „Ich bin Rickie.“ Um mich zu vergewissern, blickte ich ihn von oben bis unten und wieder nach oben an, aber es blieb dabei: wer immer das war – es war nicht Rickie Lee Jones. Also versuchte ich die Situation zu klären und meinte: „Hören Sie, wir haben heute Abend einige Gäste für ein Privatkonzert eingeladen, aber Sie gehören nicht zu diesen Gästen. Ich möchte Sie daher also bitten zu gehen.“ „Aber genau deshalb bin ich ja hier“, entgegnete der Fremde, „ich möchte hier heute Abend einige Songs spielen. Ein Klavier haben Sie doch hier, oder?“ – „Ja, ich meine, natürlich, aber das ist nicht für Sie, sondern für Rickie Lee Jones.“ – „Genauso ist es. Ich bin Rickie Lee Jones und spiele hier ein Konzert für den Gewinner unseres Website-Wettbewerbs.“ – „…Äääh…“ Ich fasste mir an den Kopf und atmete tief ein. „…Ääähm… bitte entschuldigen Sie, ich vermute es handelt sich um ein Missverständnis. Sehen Sie, erstens ist Rickie Lee Jones eine Frau, und zweitens…“ – „Kein Problem!“ Ohne eine Aufforderung zum Eintreten abzuwarten, huschte der Fremde an mir vorbei und lief schnurstracks Richtung Wohnzimmer. Die Gäste applaudierten höflich; wahrscheinlich hielten Sie den Mann für einen Leibwächter, Manager oder sonst irgendjemand aus dem Umfeld von Rickie Lee Jones. Ich beeilte mich, hinterher zu kommen und erreichte das Wohnzimmer, als der ungebetene Gast schon Platz am Klavier genommen hatte. Ich trat zu ihm ans Piano und flüsterte ihm leise zu: „Ich will nicht unhöflich sein, aber räumen Sie bitte das Feld hier. Wir erwarten hier jeden Moment Rickie Lee Jones und….“ – „Good evening, Ladies and Gentlemen“ rief er den Gästen gutgelaunt zu, „It’s great to be with you tonight. The first song is from my second album, which was released in 1981“. Fassungslos stand ich in meinem Wohnzimmer und stellte fest, dass niemand die Liedansage beklatschte. Warum auch? Ich hatte meinen Gästen Rickie Lee Jones angekündigt, also DIE Rickie Lee Jones, und nun saß ein schmuddeliger, etwas miefender wildfremder Mann an meinem Klavier und sprach: „… and it’s called ‚We belong together‘ “. „Nein, nein, nein!“ rief ich lautstark dazwischen, „wir belongen überhaupt nicht together. Bitte verlassen Sie sofort mein Haus!“. Die kurzzeitige Verwunderung des Publikums war nun hämischem Gelächter gewichen; „Was soll das denn? Das ist doch nicht Rickie Lee Jones.“, „Ist das wieder einer deiner geschmacklosen Witzchen?“ und „Ja so ein Blödsinn!“ waren da noch die harmloseren Schmähungen, die ich vernahm. Während ich vergeblich versuchte, meinen Gästen die Situation zu erklären, bemerkte ich, dass meine Stimme nicht mehr funktionierte, und je lauter ich zu rufen versuchte, umso weniger war irgendetwas von mir zu hören. Sprachlos und unfähig mich zu bewegen, musste ich zusehen, wie die erbosten Gäste ihre Jacken und Schuhe wieder anzogen, die noch gefüllten Gläser stehen lassend in Richtung Haustüre enteilten und mit entrüsteten Kommentaren von dannen zogen.‘

Was für ein Traum! Rickie Lee Jones bei mir zu Hause …. ich war sooo knapp davor … und dann sowas! Ich schämte mich in Grund und Boden vor meinen pikierten Freunden. Als Gastgeber hatte ich wohl total versagt.

„Gut, gut“. Der Direktor hatte die ganze Zeit geduldig zugehört. „Sie scheinen den Film ja zu kennen. Würden Sie bitte unserem Publikum kurz erörtern, wer Sie sind?“

„Aber gerne. Ich bin der Geschäftsführer der Institution, in der dieser Film gezeigt wird. Wir führen das in der Regel mit einem eigens dazu bestellten Kollegen aus, den ich der Einfachheit halber als ‚Filmvorführer‘ betiteln möchte. Den Film selbst zeigen wir einer Gruppe von … nun, ich nenne diese Personen mal ‚Probanden‘. Aus dem Feedback der Gruppe können wir Rückschlüsse über die Art und Weise ziehen, wie der Film rezipiert wird. Gleichzeitig hat aber der Filmvorführer auch eine korrelative Funktion: Durch gezieltes Nachfragen und Zwischenbemerkungen kann er auf den Verlauf des Diskurses Einfluss ausüben. Hierbei ist natürlich äußerste Sensibilität gefordert, denn es gilt ja nicht, unseren Probanden eine bestimmte Sichtweise aufzuoktroyieren, sondern nur eine … will sagen … Hilfestellung zu leisten. Der Filmvorführer ist also angehalten, den Prozess der Beobachtung zu lenken, ohne die individuelle Beobachtung der Probanden dadurch zu manipulieren.“

„Schön und gut, aber das meiste Ihrer Ausführungen ist uns ja bekannt.“ Diese Aussage kam von der Doktorandin, die vorgestern durch ihre Fragestellung die jetzige Situation herbeigeführt hatte.

„Aaah, unsere junge Kollegin nimmt auch wieder am Geschehen teil, wie schön.“ Die Worte des Direktors hatten einen leicht bissigen Unterton, aber er wollte der Doktorandin die Gelegenheit zur Rehabilitation einräumen. „Wenn das also für Sie nichts Neues ist, sind Sie in Ihren Erkenntnissen möglicherweise schon einen Schritt weiter und können uns allen nun erklären, weshalb der Zwischenruf in der Filmvorführung denn plötzlich in die reale Handlung des Skypens hinein hörbar war, wie?“

„Zumindest würde ich es gerne versuchen, ja, und dazu ist der ursprüngliche Vorschlag des Geschäftsführers ein geeigneter Ansatz. Durch die Synchronizität der Ereignisse des Ausrufes „Das ist aber von Wittgenstein!“ im Kinosaal und der Vernehmbarkeit eben dieses Ausrufs beim skypenden Protagonisten kann nur dann ein logischer Zusammenhang bestehen, wenn die Informationsrichtung nicht semipermeabel – also nur in eine Richtung, quasi von der Realität zum Buch zum Film, durchlässig – ist, sondern in alle möglichen Richtungen funktioniert. Der korrekte Fachterminus hierfür lautet dann wohl ganz durchlässig beziehungsweise omnipermeabel“

„Ja, sehr gut kombiniert.“ Der Direktor war angetan von den Ausführungen der Doktorandin und fuhr fort: „Es muss sich also um eine in alle Richtungen funktionierende Austauschbarkeit von Informationen handeln. Interessanterweise ist diese Multidirektionalität für die eine Seite quasi selbstverständlich, für die andere Seite aber höchst erstaunlich, wenn nicht sogar beunruhigend oder gar beängstigend. Können Sie mir hierfür Beispiele nennen?“

„Äääähm, naja, vielleicht …“ Die Doktorandin zauderte „…aaaalso, zum Beispiel …. am Beispiel …. des Beispiels … ich meine ….“, und an dieser Stelle sprang der Geschäftsführer in die Bresche und fuhr fort:

„In unserem konkreten Fall ist es für den Filmbetrachter völlig normal, dass er mit einem Zwischenruf wie ‚Das ist aber von Wittgenstein!‘ auf das Gesehene reagiert. In seiner Annahme, hiermit lediglich einen Kommentar abzuliefern, liegt er aber schon falsch. Denn das Gesehene dadurch nicht zu verändern, ist nicht möglich. Noch schwieriger wird es aber für den skypenden Autor: er erfährt unmittelbar die Reaktion auf seine Godard-Recherchen und den Satz ‚Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen der Welt – meiner Sprache, meiner Welt‘ durch den Zwischenruf „Das ist aber von Wittgenstein!“ als irrational, als unerklärlich, als geradezu unmöglich. Die drolligen Versuche seines südafrikanischen Freundes, den Fehler im Computer zu suchen, hält er lustigerweise für zielführender als die für uns nahe liegende Annahme, dass er einfach eine Wahrnehmung gemacht hat, die in seinem Unterbewusstsein gleichwertig neben jeder bewusst wahrgenommenen Erfahrung steht. Es ist wie im Traum: während des Traumes erscheint einem das gerade Erlebte als die einzige Wahrheit. Nach dem Aufwachen schaltet sich dann aber der Verstand – oder nennen wir es besser: das Tagesbewusstsein – ein und signalisiert: so ein Unsinn, es war ’nur‘ ein Traum, und man beruhigt sich selbst, indem man das Geträumte geringschätzt und abfällig behandelt. ‚Rickie Lee Jones – in meinem Wohnzimmer – das gibt es ja gar nicht‘ und so weiter.“

„Sehr gut!“ Der Direktor war mit dem Verlauf der Diskussion nun zufrieden. „Auch wenn Sie als Geschäftsführer und Leiter des Projektes Filmvorführung schon recht tief in der Materie stecken, möchte ich einen weiteren Verständnis-Test für alle vorschlagen: Unserem Hobby-Schriftsteller ist nämlich in seinen kalendarischen Aufzählungen ein Fehler unterlaufen. Daher lautet unsere dreiteilige Aufgabenstellung:  

1) Finden Sie das Datum, an dem sich ein Fehler eingeschlichen hat und ersetzen Sie dieses Datum durch das richtige Datum.

2) Finden Sie eine Möglichkeit, unseren Protagonisten auf diesen Fehler und dessen Korrektur aufmerksam zu machen. Ein weiterer Zwischenruf in der Filmvorführung ist dabei ausgeschlossen, denn das hatten wir ja schon, und wir wollen uns ja nicht wiederholen, nicht wahr?

3) Betrachten Sie mögliche Veränderungen für den weiteren Verlauf des Geschehens. Mit Geschehen meine ich nicht nur das Buch, das unser Protagonist schreibt, sondern auch die Auswirkungen auf die Filmvorführungen und letztlich auch die Konsequenzen für unser Projekt hier. Wir betrachten also – wie unsere Doktorandin es wohl nennen würde – sowohl die Aufwärtskompatibilität als auch die Abwärtskompatibilität von Ereignissen, oder anders ausgedrückt:

die Omnipermeabilität des Lebens“.