Kapitel 26

8. Dezember

Der neue Tag begann damit, dass er sich beim Aufwachen extrem schwer fühlte.
Es war weniger eine körperliche Schwere, die er verspürte. Vielmehr kam es ihm so vor, als ob sein Kopf komplett durcheinandergeraten war und er nicht so recht wusste, wo er mit dem Aufräumen beginnen sollte. Dieses Gefühl kannte er bereits aus früheren Zeiten. Es war nicht die Art von Schwere, die sich nach dem Konsum legaler oder illegaler Betäubungsmittel einstellte; Alkohol, Nikotin, THC, Kokain, Amphetamin, LSD und Psilocybin konnten einem schon mal den ‚Tag danach‘ oder auch ‚die Tage danach‘ erheblich erschweren – unter Umständen auch den Rest des Lebens. Aber von all diesen Experimenten hatte er sich schon seit langer Zeit verabschiedet. Er hatte glücklicherweise schon vor vielen Jahren festgestellt, dass das kurzzeitige Gefühl des Rausches die unvermeidlich auftretenden langwierigen Nachwehen nicht wert war – und er hatte auch die Erkenntnis gewonnen, dass diese Hilfsmittelchen ihn auf eine komplett falsche Fährte geführt hatten. An Tagen wie diesen konnte er sich gut daran erinnern, wie es gewesen war: das trügerische Gefühl der angeblichen Freiheit, die nur schwer zu durchschauende Illusion der damals als Klarheit empfundenen Vollvernebelung und die anmaßende scheinbare Gewissheit, sich auf einem angeblich höheren Level zu befinden. Mit der Zeit bevorzugte er damals dann ausschließlich den Umgang mit anderen Konsumenten; man glaubte, sich in einer Gesellschaft der ‚Wissenden‘ zu befinden – ein lächerlicher Selbstbetrug, wie er heute wusste. In den intensivsten Zeiten seiner Drogenexperimente hatte er mit seinen Musikerkollegen ernsthaft darüber beratschlagt, ob man denn den Keyboarder aus der gemeinsamen Band werfen sollte, nur weil der als einziger dem Rauschmittelkonsum abgeneigt war. Wollte man wirklich mit so jemandem Musik machen? Der Keyboarder war fraglos der beste Musiker in der Band, konnte auch gut singen und Chor-Parts arrangieren, hatte dazu auch noch Texte geschrieben – aber als dauerhaft nüchterner Zeitgenosse war er ihm und den anderen Bandkollegen doch bisweilen suspekt. ‚Was für eine verschrobene Wahrnehmung!‘ dachte er – heute, weit über zwanzig Jahre nachdem sich die Band aufgelöst hatte. Er selbst hatte sich danach auch zum generellen Abstinenzler gewandelt und dadurch intensivere Bewusstseinszustände kennen gelernt, als es ihm in seiner wilden Zeit je möglich gewesen wäre.

All diese Experimente ging er ein, weil er durch die musikalischen Vorbilder seiner Jugendjahre zu der Annahme gelangt war, dass es zur Komposition von herausragender Rockmusik unerlässlich sei, dem Drogenkonsum gegenüber aufgeschlossen zu sein. Zwei dieser Vorbilder waren mit dem heutigen Tag eng verbunden, und er zog in Erwägung, diese beiden früh Verstorbenen in seine schriftlichen Aufzeichnungen mit einzubeziehen: der 8. Dezember ist zum einen der Geburtstag des Doors-Sängers Jim Morrison, der wie Jimi Hendrix zu den Gründungsmitgliedern des Club 27 gezählt wird. Zum anderen ist der 8. Dezember der Todestag des Ex-Beatles John Lennon, der kurz nach seinem 40. Geburtstag von einem geistig gestörten so genannten Fan vor seiner Wohnung in New York erschossen wurde. ‚Das ist die traurige Konsequenz des US-Gesetzes‘, dachte er sich: ‚Auch die größten Vollidioten dürfen mit lebensgefährlichen Waffen frei herumlaufen, und das alles nur, weil schon vor mehreren Jahrhunderten die US-Amerikaner immer und überall bewaffnet sein wollten. Dieser Drang zur Bewaffnung führte zu grotesken Statistiken: die New York Times hatte ermittelt, dass in den letzten knapp 50 Jahren mehr zivile US-Amerikaner durch den Missbrauch von Schusswaffen gestorben waren, als in den letzten weit über 200 Jahren amerikanische Soldaten in allen Kriegen zusammen im Ausland gefallen waren – inklusive erster und zweiter Weltkrieg plus Korea plus Vietnam plus Afghanistan plus plus plus… Schlecht für Lennon, der zum Zeitpunkt seines Todes nicht nur seine Drogenzeit weitgehend hinter sich gelassen hatte, sondern auch seinen Zenit als Songschreiber scheinbar schon überschritten hatte. Aber was hätte man über Lennon und Morrison noch viel schreiben können, was nicht schon alles geschrieben worden war?

Gedankenpause.
Ein Lied von John Lennon ging ihm durch den Kopf. Der Titel war „Two minutes silence“.

Er überlegte kurz und wandte sich dann einer Künstlerin zu, die ebenfalls heute Geburtstag hatte: die französische Bildhauerin Camille Claudel. Obwohl die Bildhauerei nicht zu seinen bevorzugten Kunstformen zählte, hatte Camille Claudels Leben und Schaffen ihn auf eigentümliche Art und Weise berührt: anfangs nur belächelt als Muse von Auguste Rodin, des wohl größten Bildhauers seiner Zeit, gelang es Camille Claudel nach und nach, in der von Männern dominierten Kunstszene im Frankreich des 19. Jahrhunderts ebenfalls als Bildhauerin Fuß zu fassen. Nach ihrer Trennung von Rodin geriet sie in eine tiefe künstlerische Krise, zerstörte regelmäßig ihre Werke und wurde schließlich, mittlerweile psychisch schwer erkrankt, in eine Anstalt eingeliefert und verbrachte die restlichen 30 Jahre in der Psychiatrie, ohne je wieder ein neues Werk geschaffen zu haben. Sie starb, von der Welt vergessen, einsam und verwahrlost.

‚Was für eine Biographie‘, dachte er sich, nachdem er Camille Claudels Leben und Werk in seinen Aufzeichnungen skizziert hatte. Sie war nicht die erste und wohl auch nicht die letzte Künstlerin, die ihr ausgeprägtes Schaffen und ihre hingebungsvolle Leidenschaft mit dem Verlust ihrer geistigen Gesundheit bezahlt hatte. Vielleicht muss man sogar ein Stück weit wahnsinnig sein, um in den entferntesten Winkeln der eigenen Psyche forschen zu können und dann mit Meisterwerken aufzuwarten, die die Nachwelt noch lange Zeit in Staunen und Entzücken versetzen. Kreativität und Destruktivität liegen eng beieinander, und ähnlich wie Robert Louis Stevenson war auch Camille Claudel ein getriebener Mensch – eine Künstlerin, bei der der missglückte Übergang vom normalen Zustand einer bürgerlichen Existenz in eine ausufernde Schaffenskraft schließlich seinen Tribut forderte.

Menschen, die für ihre Kunst nicht nur sprichwörtlich starben, sondern auch noch den Umweg über den Verlust ihrer geistigen und körperlichen Gesundheit gingen, gab es einige, und Camille Claudel war wie ihr Zeitgenosse Vincent van Gogh eine der bekanntesten unter ihnen. Weniger Ruhm posthum erntete beispielsweise die französische Komponistin Lili Boulanger, die bereits mit 24 Jahren verstorben war und es somit wie Nick Drake und Otis Redding nicht mal in den Club 27 schaffte. An der Qualität ihrer Musik konnte es nicht gelegen haben – wohl eher daran, dass die Welt für eine wie sie noch nicht bereit war. Was aber ist mit den bedauernswerten Geschöpfen, die ebenfalls für ihre Kunst alles gaben und von denen man nie etwas gehört, gesehen oder gelesen hat? Würde sein Buch auch eines der unbeachteten Werke bleiben? Und: war das überhaupt wichtig für ihn?

Er vermied es, sich die Frage selbst zu beantworten – was hätte das auch gebracht? Genauso gut könnte er sich fragen, ob es sein Leben verlängern würde, wenn er plötzlich in eine Schreibblockade verfiele.

Vielleicht war es an der Zeit, sich endlich mit dem zu beschäftigen, was jeden Moment passieren konnte – nicht erst jetzt, nein, sondern schon das ganze Leben lang.

Nicht nur sein Leben lang.

S o n d e r n   b e i   a l l e n.

I  m  m  e  r.

J   e   t   z   t.

Denn wenn eines im Leben sicher ist, dann ist es:
der Tod.

Was also hält ihn davon ab, diese Tage – seine letzten Tage – mit Leben zu erfüllen? Könnte ein Ortswechsel helfen? Der sehnsüchtige Teil seines Gefühlslebens sagte ihm, er solle ans Meer fahren. Die romantische Seite seines Gefühlslebens teilte ihm mit, er solle in den Wald gehen. Aber egal, wofür er sich entscheiden würde: der Tod war immer und überall dabei.

Seltsam.

Er verspürte immer noch keine Angst, keine Aufregung, keine Panik.
Gab es noch irgendetwas zu tun?