Kapitel 27

9. Dezember

Auf diesen Tag hatte er sich fast schon gefreut, denn den 09. Dezember hatte er bei seinen Tagebucheintragungen für etwas Besonderes reserviert: Es war kein Geburtstag oder Todestag, sondern der Jahrestag einer Aufnahme: An diesem Tag im Jahr 1964 fanden sich im Studio des Toningenieurs Rudy van Gelder die Musiker John Coltrane, McCoy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones ein, um eines der bedeutendsten Alben des Jazz einzuspielen: A Love Supreme.

Als er die Platte zum ersten Mal hörte, wusste er noch nichts von der Suiten-Form, in der das Werk angelegt war. Er hatte eine Musik-Cassette erhalten, auf die schlicht der Name des Saxophonisten und der Titel des Albums mit Handschrift aufgetragen waren. Er hatte keine Informationen über die Titel, die im Deutschen ‚Anerkennung‘, ‚Entschluss‘, ‚Streben‘ und ‚Psalm‘ hießen. Er hatte keine Kenntnis von dem als Gebet strukturierten Finale des Albums – und dennoch konnte er all das spüren, als er das Album zum ersten Mal hörte.

Spüren.

Einfach spüren.

Bis dahin hatte er nicht viel von Jazz gewusst. Ein wenig ‚Take Five‘ hier, ein bisschen ‚Autumn Leaves‘ dort – aber sonst? Coltrane war es gelungen, ihm eine völlig neue Welt zu erschließen.

Wohl nur ganz wenige Musikalben hatten eine derart durchschlagende Wirkung erzielt. Coltrane hatte ihm den direkten Weg vom Ohr in die Seele gewiesen.

Einen direkten Weg?

Interessanter Gedanke.

Eigentlich war es immer ein sehr indirekter Weg gewesen. Ein paar Musiker gehen in ein Studio und verleihen mit ihren Instrumenten ihren Gefühlen Ausdruck. Dieser Ausdruck ist in Form von Schallwellen vernehmbar, die Schallwellen werden mittels Mikrofon in elektrische Impulse umgewandelt, die Impulse dann durch Aufzeichnungsmedien für die Nachwelt konserviert.

Ob das nun wie zunächst analoge Tonträger in Form von Schallplatten und Tonbändern oder, wie später, digitale Aufzeichnungsmedien waren, spielte für ihn keine Rolle. Bei den endlosen Diskussionen seiner Berufskollegen und den Debatten der ach-so-anspruchsvollen Hörerschaft um das angeblich richtige Equipment hatte er sich schon vor Jahren ausgeklinkt. Er war weder ein Retro-Nostalgiker vom Schlage ‚Analog ist besser‘ noch ein Pseudo-Technologiefreak, der ausschließlich den neuesten Gear-Gimmick für zielführend hielt. Letztlich waren es alles nur Schritte auf dem Weg – dem Weg, den Coltrane scheinbar in einem Schritt genommen hatte, einem wahrhaftigen ‚Giant Step‘.

Schon umständlich, dachte er sich, denn das gerade beschriebene Procedere entsprach auch nur dem halben Weg, den Weg der Tonaufzeichnung. Um die akustische Darbietung einer Hörerschaft zugänglich zu machen, musste ja der konservierte Ton wiedergegeben werden. Dazu waren dann wieder Platten-Nadeln, Tonköpfe oder Digital-Analog-Wandler notwendig, gefolgt von Verstärkern und Lautsprechern. Ein langer Weg, und das Beschreiten dieses Weges hatte er sich als Beruf auf die Fahnen geschrieben. Tontechnik war für ihn der legitime Weg, den tiefsten Empfindungen eine Klangkünstlers Ausdruck zu verleihen. Mit den Jahren hatte er viel Erfahrung sammeln können, und selbst sein eigenes kleines Musikstudio war mittlerweile mit hochwertiger Technik ausgestattet. Aber war er dem Geheimnis nähergekommen? Was hatten Menschen wie Rudy van Gelder intuitiv richtig gemacht, um der Menschheit Kostbarkeiten wie ‚A love supreme‘ zu schenken? Sicher, es war alles zusammengekommen, was mit der Tontechnik selbst noch gar nichts zu tun hatte: die richtigen Musiker, die richtigen Kompositionen, zur richtigen Zeit im richtigen Raum… und nach Aufnahme und Produktion dann das richtige Umfeld, die richtige Plattenfirma, das richtige Publikum – alles muss zusammenpassen.

Was seinen Teil der Arbeit betraf, verstand er mit zunehmender Ausübung seines Berufes als eine Art Hebamme – jemand, der den Geburtsvorgang mit begleitet, den Akt der Entstehung, das Werden, das in-die-Welt-geworfen-werden, die Premiere, das Unerhörte im wahrsten Sinne des Wortes: bisher nicht gehörtes sollte über die Mikrofone, Verstärker und Lautsprecher nun den Weg in die Herzen der Menschen finden. Oder, besser noch wie bei Coltrane: in die Seele. Von der Seele des Musikers direkt in die Seele des Musikhörenden – SO müsste es sein!

Na ja, dachte er sich, andererseits wäre ich dann ja arbeitslos. Oder meinen Beruf würde es gar nicht mehr geben. Aber dieses Opfer wäre es wert. Ein fantastischer Gedanke: Der emotionale Gehalt der Musik, ohne Umweg, direkt zum Hörer. Oder, noch weitergedacht: Wie wäre es, wenn der Musiker gar kein Instrument, keine Akkorde, keine Skalen benötigte, sondern seinen Impact quasi ohne Umwege zum Ausdruck bringen könnte? Und, noch weitergedacht: Wenn der Hörer nicht nur auf die ganze Technik, sondern auch auf das Hören selbst verzichten könnte? Quasi ohne Ohren hören?

Ja, das wäre es: eine unmittelbare Verbindung von Mensch zu Mensch, ohne Umweg, ohne Technik – direkter ginge es nicht.

Aber – und er wäre ja nicht er, wenn es nicht ein ‚Aber‘ gäbe –, aber wie soll das gehen? Gefühle sind doch nur indirekter Ausdruck eines dahinter liegenden…  beziehungsweise einer dahinter liegenden… hmmm, ja was eigentlich? Für einen Moment hatte er das Gefühl, gerade völlig abgeschweift zu sein. Zeitglich – oder gleichzeitig? – war er sich aber fast sicher, beinahe eine Idee gehabt zu haben, die ihm völliges Neuland erschlossen hätte. Aber… was war das noch mal? Er versuchte, den Faden wieder aufzunehmen, indem er an den letzten Gedanken anknüpfen wollte. Also: Gefühle sind ja nur indirekter Ausdruck eines dahinter liegenden…  beziehungsweise einer dahinter liegenden… na… wie kann man das sagen… kann man das überhaupt sagen? …. Wenn schon nicht sagen – kann man es wenigstens denken? … denken… aaaah, Moment! …. Stop! …. oh nein …. jetzt entfernt es sich… jetzt ist es weg.

Schade.

Er kam sich vor, wie wenn man morgens aus einem sehr intensiven Traum erwacht. Für einen Moment ist man noch in dem Traum, aber sobald man anfängt, an den Traum zu denken, verflüchtigt sich dieser, wird unkonkret, verschwindet wie hinter Nebeln, und je intensiver man versucht sich zu erinnern, umso schneller entgleitet einem der Traum – wie Sand, den man versucht, in Händen zu halten. Dauernd rieselt ein bisschen mehr davon weg, und das wenige, was dann noch davon übrigbleibt, ist zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.

Jetzt hatte er den Faden völlig verloren, und daher versuchte er das, was noch übrig war, zu notieren:

„Wie wäre es, wenn man eine direkte Verknüpfung zwischen Menschen herstellen könnte – ohne die Umwege der verbalen oder schriftlichen Kommunikation, völlig unmittelbar und praktisch von Mensch zu Mensch?“