Kapitel 29

11. Dezember

Bild des Protagonisten mit der Aufschrift: "Falls ihr mich sucht... ich bin im Zweifel"

„Und?“

„Was, und?“

„Und warum ziehen viele Menschen es vor, ihr Leben lieber in einer irrationalen Wunschwelt zu verbringen, statt sich den Tatsachen des Lebens zu stellen?“

„Tja, warum? In Finnland gibt es ein Sprichwort: ‚Realität ist die Illusion, die aus Mangel an Alkohol entsteht.“

„Ah ja, sehr schön … es gibt ja auch die bedauernswerten Menschen, die immer meinen, ‚Das bisschen, was wir essen, können wir auch trinken.‘ Denen möchte man entgegenhalten: ‚Das bisschen, das du denkst, kannst du auch vergessen.‘ Aber ich meinte jetzt nicht Süchte im körperlichen Sinn wie Alkohol, Drogen, Medikamente oder ähnliches. Auch die psychosomatischen Dinge wie Anorexie und Bulimie hatte ich bei meiner Frage nicht im Sinn. Ich meinte eher die Phänomene der externen Indoktrination und der internen Autosuggestion. Die gewollte Selbsttäuschung, die aus einer völlig fehlinterpretierten Offenheit gegenüber äußerst fragwürdigen Weltanschauungen entsteht.“

„Also wie bei Religionen beispielsweise?“

„Ja, auch Religionen. Aber mit Religion habe ich mich schon ausgiebig befasst. An der Baustelle möchte ich eigentlich nicht weiterarbeiten, dafür fehlt mir … die Zeit.“

Am anderen Ende der Telefonleitung war es kurz still. „Ja, die Zeit…“ entgegnete der Freund in Berlin „…wer Zeit hat, der ist verdächtig. Keine Zeit zu haben ist zu einem Statussymbol geworden. Wer keine Zeit hat, hat immer was zu tun. Wer immer was zu tun, ist anscheinend gefragt. Wer gefragt ist, hat Bedeutung. Wer Bedeutung haben will, hat besser also keine Zeit.“

„Haaaalllooooo, Viktor, ich bin es. Wir kennen uns schon so viele Jahre. Ich erachte mich nicht als bedeutend. Ich meinte nur …“ er hielt kurz inne, denn auch Viktor gegenüber hatte er bislang nichts von Dr. Hansens Prognose erwähnt. „…ich meinte nur, man weiß ja nie, wie viel Zeit man hat…. überhaupt hat… insgesamt hat… noch hat. Und da wäre es doch schade, wenn man zu viel Zeit mit einer Sache wie beispielsweise Religion verbringen würde – einer Sache, die einem eigentlich gar nichts gibt.“

„Ach so.“

„Ja, so. Was ich meinte, war die erstaunliche Feststellung, dass Menschen in meinem Umfeld, von denen ich dachte, sie gut zu kennen, in der letzten Zeit mir gegenüber immer öfter scheinbar ernsthaft Dinge postulieren, die weder beweisbar sind noch sonderlich logisch erscheinen.“

„Wie zum Beispiel?“

„Naja, eine Bekannte von mir zum Beispiel – nennen wir sie mal X – kann ihren Beruf, den sie nach eigener Aussage liebt und in dem sie ihrer Ansicht nach auch sehr gut sei, nur noch sporadisch und selten ausüben, weil sie dauernd krank ist.“

„Oh, das stelle ich mir aber schlimm vor“, pflichtete Viktor bei.

„Ja, das ist auch schlimm. Viel schlimmer ist aber, dass ihre Krankheit nicht eine Krankheit ist, sondern ein ganzes Sammelsurium an Krankheiten. Körperliche, psychische, psychosomatische, seelische Leiden aller Art. Sie war auch schon bei vielen Ärzten, aber statt eines Lösungsansatzes kommt sie jedes Mal mit noch einer zusätzlichen Krankheit zurück, die vom jeweiligen Mediziner diagnostiziert wurde. Mittlerweile hat sie angeblich so ziemlich alles, was man nur haben kann.“

„Und was macht sie jetzt?“

„Seit einiger Zeit geht sie zu einer so genannten Heilerin, die mit ihr … auf sogenannte alternative Weise ‚arbeitet‘. Ich habe ja nicht grundsätzlich etwas gegen Alternativmedizin – nur wäre es halt schön, wenn mal tatsächlich ein Ergebnis dabei herumkäme. Denn X versinkt aus meiner Sicht in immer tieferer Abhängigkeit dieser angeblichen Heilerin gegenüber, ohne dass sich an ihrem Gesundheitszustand etwas verbessern würde – im Gegenteil. Mittlerweile sieht sie schon fast so krank aus, wie sie sich fühlt.“

„Oh, oh. Eine psychische Abhängigkeit von der sogenannten Heilerin, meinst du?“

„Ja, und X versenkt eine Menge Geld bei dieser Frau, so dass sie trotz ihres durchaus passablen Einkommens als Lehrerin mittlerweile in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist.“

„Eine Lehrerin? Und trotzdem so naiv?“

„Naiv würde ich das nicht nennen. Naiv sein kann ja auch etwas Positives bedeuten, im Schiller´schen Sinne: Unbekümmert, mit leichter Hand, unbeschwert, mit offenem Herzen, unverdorben… ich denke, naiv ist nicht das richtige Wort. Es ist wohl eher ein Problem des Glaubens: du weißt ja, das Gegenteil von gläubig ist ungläubig. Die Steigerung von gläubig jedoch ist leichtgläubig.“

„Aaah, verstehe. Und wer außer einem verbeamteten Menschen könnte es sich auch sonst leisten, den Großteil des Jahres mit dem Attest ‚arbeitsunfähig‘ herumzulaufen, ohne Angst um seinen Job haben zu müssen…“

„Ja, das meine ich auch. Und statt medizinisches Fachpersonal aufzusuchen, das für die fachgerechte Behandlung von physischen und psychischen Beschwerden ausgebildet ist, vertraut sie sich lieber fragwürdigen Pseudo-Heilern an und zieht dann das ganze Programm durch: da wird dann die Kindheit in allen Facetten durchleuchtet, in angeblichen früheren Leben nach möglichen Erklärungsversuchen herumgestochert und dem Ganzen dann auch noch das hier völlig fehlplatzierte Attribut „spirituell“ angehängt. Es ist einfach widerlich, und X, die ich mal als sehr vitalen und mental stabilen Menschen kennengelernt habe, versinkt zusehends im trüben Sumpf der Esoterik.“

Eine längere sprachliche Pause folgte. Dann hakte Viktor nach. „Und … das ist nur ein Beispiel?“

„Ja, leider. Ein Paar, mit dem ich schon lange Zeit befreundet bin – nennen wir die beiden mal Y und Z – und die schon immer etwas grenzgängerisch im positiven Sinne drauf waren, entwickeln sich auch zusehends seltsam. Erst fing er an, sein Rheuma nicht mehr mit konventionellen Mitteln zu behandeln, sondern mit sogenannter Mentalfeldtherapie.“

„Womit?“

„Mentalfeldtherapie, ja. Dabei beklopft der Behandelnde oder der Betroffene selbst bestimmte Stellen am Körper, woraufhin sich die Heilung mitunter in Minuten einstellen soll.“

„Einstellen soll, ja… aber das ist halt was anderes als einstellen.“

„Das hängt natürlich vom angeblichen Mentalfeld des Betroffenen ab. Es geht aber noch weiter: Nachdem die genannte Therapieform erstaunlicherweise doch nicht zur Heilung innerhalb von Minuten geführt hat, hat sich Y zu weiteren Schritten entschlossen und eine Heilung mittels Engeln durchgeführt.“

„Mit … mit Engeln?“ Viktors Stimme am Telefon war die Unglaubwürdigkeit der Behauptung anzuhören, doch versuchte er, die Contenance zu wahren. „Und … jetzt – ist er geheilt, oder wie?“

„Hmmm, schwer zu sagen. Er glaubt, es geht ihm besser. Du weißt ja, der Glaube kann Berge versetzen.“

„Soweit ich weiß, sind noch alle Berge da, wo sie schon immer waren.  Was macht Y denn jetzt? Ich meine, ist er da angekommen, wo er hinwollte, oder geht es jetzt noch weiter?“

„Nein, leider geht es noch weiter. Mittlerweile praktiziert er sogenannte Psycho-Kinesiologie, bei der der Körper befragt wird und dann durch Muskel-Kontraktion angeblich antwortet.“

„Ah ja… das ist… sehr interessant.“ Viktor versuchte, das Gehörte nicht zu bewerten, aber die Verwunderung war ihm schon anzuhören. „Und das funktioniert?“

„Schwer zu sagen. Ich kenne einen Fall aus meiner Familie, da hatte der Kinesiologe als Ursache einer Schlafstörung eine Toxoplasmose diagnostiziert – mittels der bereits erwähnten Muskel-Kontraktions-Methode. Da mir das aber sehr schwer nachvollziehbar erschien, empfahl ich dem Betroffenen den Gang zum Hausarzt – denn Toxoplasmose ist durch einen einfachen Bluttest leicht nachzuweisen. Ergebnis: negativ. Nicht nur, dass bei dem Betroffenen aktuell keine Toxoplasmose nachweisbar war – er hatte auch nie eine solche Krankheit gehabt. Der Hausarzt empfahl auch, die vom Kinesiologen verschriebenen – natürlich biologischen – Mittelchen nicht weiter einzunehmen. Die hätten nämlich selbst bei einer vorhandenen Toxoplasmose gar nichts bewirkt. Aufgrund der nicht vorhandenen Krankheit waren sie sogar gänzlich vergebens.“

„Vergebens ist ja nicht das gleiche wie umsonst. Wo hat er denn die Mittelchen hergehabt?“

„Gekauft. Vom Kinesiologen. Für teuer Geld.“

„Siehst du? Dann waren die Mittelchen zwar vergebens, aber nicht umsonst…. Was machen Y und Z denn jetzt so?“

„Sie beschäftigen sich mit Lichtnahrung und Chemtrails.“

„Lass uns wieder über etwas Sinnvolles reden. Wir sind wir denn nur auf dieses sonderbare Thema gekommen? Ach so, ja, ich hatte erwähnt, dass ich gelesen hatte, dass heute hier in Berlin eine Veranstaltung aus Anlass des Geburtstages des äußerst fragwürdigen Autors Thorwald Dethlefsen ist. “

„Ja, Viktor, und dabei ist der 11. Dezember doch ein Tag, der auch mit bedeutenderen Menschen verknüpft ist.“

„Zum Beispiel?“

„Heute ist der Todestag des Soul-Sängers Sam Cooke.“

„Oh ja, Sam war wirklich großartig. Du hast mir doch mal die CD ‚Live at the Harlem Square-Club‘ ausgeliehen, weißt du noch?“

„Ääähm, nee … weiß ich leider nicht mehr.“

„Oh je, ich glaube, ich habe sie dir nie zurückgegeben … wo die bloß ist? … Hey, stell‘ dir mal vor, dass ein Songtitel von Sam Cooke das Motto deines eigenen Lebens darstellen soll. Also, bei mir wäre das… ääähm, ja…  wahrscheinlich….  ‚Bring it on home to me‘, vermute ich mal… und bei dir?“

„Ganz sicher: ‚A Change is gonna come‘.“