Kapitel 31

13. Dezember

‚Geburtstag Robert Gernhardt‘, notierte er, und ‚eine beeindruckende Entwicklung‘.
In der Tat: Robert Gernhardt war ab meiner Kindheit praktisch omnipräsent: zunächst als Gagschreiber für den Komiker Otto Waalkes tätig, den wir damals alle noch wahnsinnig witzig fanden, entwickelte sich Gernhardt als Mitbegründer der neuen Frankfurter Schule zu einem meiner großen Vorbilder im Umgang mit der deutschen Sprache: manchmal deftig und derb, dann wieder hintersinnig und listig, immer aber stilsicher und pointiert.

Der gerne unter Pseudonymen wie ‚Lützel Jeman‘ Publizierende projizierte sein Alter Ego in die Kunstfigur ‚Norbert Gamsbart‘ und hatte durch diesen Kunstgriff die Möglichkeit, seine eigene Weltsicht unter anderem Namen unverstellt und in eindeutiger Sprache kund zu tun. Dabei blieb Gernhardt als Person unangreifbar, da er sich jederzeit von den gemachten Aussagen distanzieren konnte mit dem Hinweis, nicht er – Gernhardt – habe diese Aussagen getroffen, sondern seine Kunstfigur habe sich zu solchen Behauptungen verstiegen.

Als Urgestein des endgültigen Satiremagazins ‚Titanic‘ hat er zusammen mit F.K. Waechter, Eckhard Henscheid, Chlodwig Poth, F.W. Bernstein und anderen nicht nur mein Verständnis von Humor revolutioniert, sondern auch die Neugier auf den schieferen Sinn des Lebens geweckt, und ohne die Titanic hätte ich möglicherweise solch geniale Künstler wie den US-amerikanischen Zeichner Gary Larson gar nicht kennengelernt. Robert Gernhardt hingegen erfuhr in seinen späten Jahren dann noch die verdiente Anerkennung als seriöser Lyriker, der er – neben all seinen Verdiensten um die Satire – eben auch war.

So langsam habe ich da ein schönes Kuriositätenkabinett an Persönlichkeiten und Ereignissen aufgebaut, ich habe die Bedeutung und den Einfluss der verschiedenen Künstler auf mich beschrieben und dürfte mich daher eigentlich nicht wundern, wenn ich später einmal nur als Schnittmenge meiner Umwelt, als Replikation wahrgenommen werde – und nicht als Unikat, als Solitär oder noch besser: als Original. Aber – was ist das überhaupt: ein Original. Fragen wir doch mal den Duden. Das Substantiv Original basiert auf dem lateinischen ‚origo‘ und meint ‚Ursprung, Quelle, Stamm‘. Aber wer kann das schon für sich in Anspruch nehmen? Ursprung sein hieße, dass vor mir nichts dergleichen vorhanden gewesen wäre und alles, was nachfolgt, eben auch kein Original mehr ist, weil es ja von eben diesem Original abgeleitet wäre. In der Kunst ist das Original definiert als das vom Künstler respektive Verfasser höchstselbst geschaffene unveränderte Werk. Schön und gut – aber ist es deshalb schon ohne externen Einfluss, ohne äußere Einwirkung, ohne bewusst oder unbewusst empfangene Beeinträchtigung anderer entstanden? Wohl kaum. Eine Möglichkeit dieser unlösbaren Aufgabe zu entrinnen, dem Dilemma der Urheberschaft ohne Interferenz, ist die von Gernhardt vorgenommene Subsumierung: Seine Abneigung gegen Sonette namens ‚Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs‘ trug er in der Form zweier Vierzeiler plus zwei Dreizeiler vor: eben in der Form des Sonetts.

‚Ja, so könnte es gelingen‘, dachte er, und wie in dem englischen ‚If you can’t beat them – join them‘ bot sich auch hier das scheinbar Paradoxe als probates Mittel der Wahl an.

„Jaha, das Paradoxe als logische Konsequenz“. Der Filmvorführer lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück. „Was geht da in unserem schreibenden Protagonisten vor sich? Lassen Sie uns das Gesehene der letzten Tage Revue passieren. Er interessiert sich für leidende Künstler wie Camille Claudel – nicht, weil er sich für einen ebensolchen Künstler hält, sondern weil er für deren tiefste Beweggründe Empathie entwickelt hat. Er fabuliert über direkten und unmittelbaren emotionalen Kontakt von Mensch zu Mensch, ohne den Umweg über die Kunst zu gehen – nicht, weil er den Künsten abhold wäre, nein, sondern weil er es als mögliche Form der Vollendung aller Künste betrachtet. Er äußert einem Freund am Telefon gegenüber seine Abneigung bezüglich kommerzialisierter Esoterik und unausgegorenen Verschwörungstheorien – nicht etwa, weil er Unbewiesenes für Unmögliches hält, sondern weil er sich der Vernunft verpflichtet fühlt, und die Vernunft gebietet es nun einmal, auch das scheinbar Unmögliche mit einzubeziehen, aber es dennoch fein säuberlich vom sich meist in unmittelbarer Nähe befindenden Humbug zu trennen. Er ist fasziniert von Catch 22, diesem zugegebenermaßen einzigartigen Gedankenmodell, das im Alltag viel häufiger zu finden ist als es den meisten Menschen überhaupt bewusst ist – nicht, weil er ebenfalls mit scheinbar absurder Argumentation Macht ausüben möchte, sondern weil er die Unterscheidung zwischen Logik und Paralogismus für absolut essentiell hält. Und heute stellt er die Frage nach Originalität – nicht, weil er das für unmöglich hält, sondern weil er die Suche nach dem Original als das erkannt hat, was sie ja schon immer war und auch immer noch ist: eine Sisyphus-Arbeit, ein Fass ohne Boden, eine Never-Ending-Story.“

Er blickte ins Auditorium in der Hoffnung auf ein Feedback des Publikums, aber – nichts. „Wir haben nun fünf Kapitel unseres Filmes am Stück gesehen. Haben Sie hierzu Fragen?“ Wiederum: keine Rückmeldung. „Haben Sie Wünsche, Anregungen, Bemerkungen – den Film betreffend?“ Wiederum keine Reaktion. „Ich kann Sie hier im Halbdunkel leider kaum erkennen. Ich werde daher nun die Saalbeleuchtung wieder einschalten.“ Das einsetzende Licht bewegte die meisten der Zuschauer dazu, mit zusammengekniffenen Augen leise ihren Unmut über die veränderten Beleuchtungsverhältnisse zu äußern. Während das Gemurmel des Publikums im Saal zunahm und von Gähnen und Räkeln begleitet wurde, hielt der Filmvorführer die waagerecht ausgebreitete Hand flach über seine Augen, um nicht selbst geblendet zu werden. Er blickte sich um, und nachdem seine Ausschau scheinbar erfolglos gewesen war, rief er in den Saal: „Wo ist denn die Frau, deren Ex-Mann am gleichen Tag wie Jimi Hendrix Geburtstag hat? Ich meine die Dame, die immer alle möglichen Varianten einer Aussage durchexerziert.“ Die Menschen im Auditorium schauten sich um und dabei gegenseitig an, aber die Frau war scheinbar nicht anwesend. „Ach so was“, murmelte der Filmvorführer vor sich hin. Dann legte er seine im Halbkreis geformten Hände wie ein Megaphon um den Mund und rief in den von zunehmender Geräuschkulisse erfüllten Saal: „Hat jemand den Mann gesehen, der sich mit Husserl so gut auskennt? Sie wissen schon, ich meine den Herrn, der immer sehr ausgeprägte Schlussfolgerungen zum Besten gab.“ Wieder reckten sich im Publikum die Hälse, die Köpfe drehten sich nach links und rechts, manche blickten auch nach hinten in die entfernteren Sitzreihen. Ergebnis: Schulterzucken, Kopfschütteln und Gesten der Ahnungslosigkeit. „Aber die beiden können doch nicht einfach verschwunden sein? Das hier ist doch eine Pflichtveranstaltung! Wie ist denn so etwas nur möglich?“

Um der allgemeinen Unruhe im Raum entgegenzuwirken, entschloss sich der Filmvorführer, dort weiterzumachen, wo er vor dem Intermezzo aufgehört hatte. „Bitte setzen Sie sich wieder hin. Wir machen gleich mit dem Film weiter.“ Während die Menschen wieder ihre Plätze einnahmen, versuchte er durch Wiederholung seiner letzten Anmerkungen, den Faden wieder aufzunehmen und die Betrachter wieder zur Konzentration auf die Leinwand zu geleiten. „Also, hier waren wir…“ Er schaltete den Projektor wieder ein. Im Raum legte sich allmählich die Unruhe. „ …wir haben gesehen, dass unsere Filmfigur sich allerlei Gedanken um den feinen Unterschied zwischen Echtheit und Fälschung macht.“ Jetzt schaltete er die Saalbeleuchtung wieder aus, und nun verstummten auch die letzten Reste des Gemurmels. „Schauen wir doch mal, ob der nächste Tag unserem Hauptdarsteller auf die Sprünge hilft. Vielleicht kommt er doch noch zur Erkenntnis, was da alles miteinander interagiert.“