Kapitel 34
16. Dezember
Als er am nächsten Morgen aufstand und auf dem Kalender das Datum betrachtete, fiel es ihm ein: und noch ein Geburtstag! Heute ist der Tag, an dem sich die terrestrische Existenz von Arthur C. Clarke jährt. Der britische Science-Fiction-Autor ist für mich aus mehreren Gründen erwähnenswert: zum einen hatte er zusammen mit dem von mir hoch geschätzten Stanley Kubrick das Drehbuch für dessen Film ‚2001 – Odyssee im Weltraum‘ geschrieben, das auf Clarkes Kurzgeschichte ‚The Sentinel‘ von 1948 basierte. Zum anderen hatte der Autor zunächst Physik studiert und dadurch eine solide wissenschaftliche Basis seiner Schriftstellerei geschaffen. Clarkes Romane sind oft in der näheren Zukunft angesiedelt und behandeln technische Themen wie die seinerzeit noch fiktive bemannte Raumfahrt. Oft liegt aber das Visionäre seines Werks direkt vor uns, sprich: in der Gegenwart und auf der Erde. So war der leidenschaftliche Freizeit-Taucher Clarke einer der ersten, der außer der Erforschung des Weltraumes zunächst einmal die gründliche Erforschung unseres eigenen Planeten auf die Agenda setzte, und hier im Besonderen: die Erforschung der Weltmeere – ein bis heute sträflich vernachlässigter Bereich. Wir wissen sehr gut, wo sich in Millionen von Lichtjahren entfernt eine Supernova ereignet hat – aber wie es in zehn Kilometer Wassertiefe aussieht, ist uns nahezu unbekannt. Clarkes Einschätzung war richtig: man sollte nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Weiße Flecken auf der Landkarte gab es damals, Mitte des 20. Jahrhunderts, praktisch keine mehr: nahezu alles war kartographiert, vermessen und registriert. Die höchsten Berge waren bestiegen, und die zahlreichen enormen technischen Entwicklungssprünge sowie die daraus resultierende Fortschrittsgläubigkeit erreichten immer neue, ungeahnte Höhen. Clarkes Werk war nicht nur Science-Fiction im Sinne des Begriffes, wie er oft missverständlich und unvollständig für Weltraumabenteuer aller Art verwendet wird: sein Interesse galt den Möglichkeiten, die wir hier auf der Erde haben, und das mit den Mitteln, die wir weiterentwickeln können. So ist es wenig erstaunlich, dass Arthur C. Clarke bereits im Jahr 1964 die Allgegenwärtigkeit von Personal Computern im Alltagsleben prognostizierte und sich für deren Vernetzung zum Aufbau einer weltweiten Struktur einsetzte – also die Erfindung des Internets, so, wie wir es heute kennen. Und schon damals sehr detailgenau beschrieben – wohlgemerkt von einem Schriftsteller, über eine Dekade vor der Gründung von Firmen wie Microsoft und Apple.
Was habe ich da eben geschrieben? Er scrollte auf dem Bildschirm nach oben und las: ‚Möglichkeiten, die wir hier auf der Erde haben, und das mit den Mitteln, die wir weiterentwickeln können‘. Tja, schön wäre das … aber es setzt etwas voraus, ohne das nur wenig geschieht: einen Willen. Der Volksmund kennt das Sprichwort ‚Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg‘. Oft genug werden Wege beschritten, weil man dem Willen anderer folgt. Die Formulierung eines gemeinsamen Zieles, angetrieben von einem starken Willen – das wäre etwas, womit man sich auf den Weg machen könnte. Das wäre auch keine Science-Fiction, denn was bedeutet denn Science-Fiction schon, wenn man es mal wörtlich nimmt: Wissenschafts-Einbildung. Hmmm… er wollte ja nicht das ganze Sci-Fi-Genre in Misskredit bringen, nur weil ihm die Übersetzung nicht gefiel. Allerdings hatte er sich oft darüber geärgert, dass von seinen Mitmenschen trotz offensichtlicher Fakten, eindeutigen wissenschaftlichen Belegen und unmissverständlicher statistischer Aussagen selbst die einfachsten und naheliegendsten Konsequenzen aus Bequemlichkeit – nein, man muss es Faulheit nennen – nicht umgesetzt wurden:
Wissenschaftlich betrachtet ist die Massentierhaltung in ihrer jetzigen Form nicht zukunftsfähig. Wie sollte sie das auch sein: sie war es ja nie gewesen. Wie konnte man solche Fakten nur ignorieren: zur Produktion von einem Kilo Rindfleisch werden 15.000 Liter Wasser benötigt – Trinkwasser, natürlich. Für die Herstellung von Tierprodukten wie Fleisch, Milch und Eiern werden im großen Stil Nahrungsmittel angebaut: Getreide, Soja, Mais und weitere pflanzliche Produkte, die auch zur Ernährung der Menschheit geeignet sind, heißen daher in der konventionellen Landwirtschaft Futtermittel. Um auf diesem Umweg ein Kilo Fleisch zu ‚erzeugen‘, werden also rund fünfzehn Kilogramm Getreide verschwendet – der Rest wird von den Tieren verstoffwechselt, also in Wärme und Gülle umgewandelt. Ein Verhältnis von Aufwand zu Ertrag in der Relation von 1:15 – eine Maschine, die einen solchen Wirkungsgrad von nicht einmal 7 Prozent hat, würde man aus Gründen der Energiebilanz sofort abschalten – viel zu unwirtschaftlich, viel zu teuer, viel zu aufwendig. Auch ein Blick auf die Bevölkerungsentwicklung zeigt, dass die Grenzen des Wachstums längst überschritten sind: mit einer Bevölkerung, die Fleisch im Umfang der westlichen Welt konsumiert, lassen sich nach seriösen Berechnungen maximal 5,5 Milliarden Menschen ernähren – zu schade, dass auf der Erde bereits jetzt über 7 Milliarden Menschen leben, von denen nach Angaben der UN-Weltgesundheitsorganisation mittlerweile etwa ein Viertel unterernährt sind – das sind genau die 1,8 Milliarden Menschen, die wir ‚zu viel‘ auf diesem Planeten sind. Aber nicht die Menschen sind zu viel, sondern unsere Lebensweise ist zu viel: Würde sich die komplette Menschheit rein pflanzlich ernähren, dann könnten damit nach Berechnungen der WHO etwa 10 bis 12 Milliarden Menschen ernährt werden. Schon jetzt müsste also niemand mehr Hunger leiden, wenn es endlich gelänge, den ebenso archaischen wie perversen Verzehr von Tieren und Tierprodukten zu überwinden. Das, dachte er, ist wahre Science-Fiction: wenn sich eine zukünftige Gesellschaftsform einmal peinlich berührt an die primitive Vergangenheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts zurückerinnern würde und beschämt ihrer eigenen Spezies konstatieren wird, dass das Fressen von Tieren ein ebensolcher Anachronismus gewesen sei wie Sklaverei, die Unterdrückung der Frau und Rassismus.
Aber darauf müsste er wohl lange warten. Nicht mal in seinem nächsten Umfeld konnte er auf diesem Gebiet irgendetwas erreichen. Mit Schaudern erinnerte er sich an die alljährlichen weihnachtlichen Treffen mit seiner Familie. Nicht, dass seine Familie aus Unmenschen bestand – dass nicht unbedingt, auch wenn die politischen Ansichten mancher Familienmitglieder schon bedenklich nahe an den rechten Rand gerückt waren und bei einer Person bereits zum rassistischen Gedankengut mutiert waren. Nein, Politik konnte man bei so einem Familientreffen ja einfach aussparen, aber an Weihnachten geht es ja auch ums Essen, und spätestens da wurden die immer gleichen Phrasen gedroschen: Seine Schwestern fanden es wahlweise ‚interessant‘ beziehungsweise ‚toll‘, dass er nun schon so viele Jahre dem Fleischkonsum entsagt hatte – aber eine Konsequenz für ihr eigenes Leben hatten sie daraus nicht gezogen. Sie kauften weiterhin beim ‚guten Metzger‘ ein, dem Metzger von nebenan, der seine Tiere angeblich gaaaanz liebevoll aufzieht und ach so gut füttert. Seltsamerweise werden diese Tiere dann aber nicht zu Tode gestreichelt, sondern genauso bestialisch ermordet wie alle anderen Nutztiere. Was für ein Wort! ‚Nutztiere‘ … Wem nützt das? Von allen Fleischessern, die er kannte, wohnten ungefähr hundertfünfzig Prozent neben genauso einem liebevollen und fürsorglichen Metzger. Die anderen hundertfünfzig Prozent erteilten sich selbst Absolution, in dem sie ihren Kindern oder Enkeln die lustige Bärchenwurst kaufen, bei der das Konterfei eines schwabbeligen Teddybären mittels Farbstoffen auf die fettigen Wurstscheiben imprägniert wurde.
Wenn er Glück hatte und das Weihnachtsfest harmonisch verlief, musste er sich nur dem milden Spott seines Bruders und dem zynischen Geschwätz seines Schwagers stellen. Wenn er Pech hatte, wurde er noch zum Geburtstag seiner Schwägerin eingeladen, die zum Zeichen ihrer Gastfreundschaft ausschließlich Fleischgerichte anbot. Obwohl er nicht der einzige Veganer bei diesem Fest war, gab es für seinesgleichen nichts Essbares. Selbst das Gemüse war mit Butter behandelt worden. Also bestellten die Veganer unter den Gästen sich ihr Essen beim nahegelegenen Asiaten und zogen während des Mahls die verwunderten Blicke der anderen Gäste auf sich. Vor dem Essen wurde natürlich gebetet: ‚Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast …‘ … ja, schöne Bescherung für Jesus, von dem leider nicht eindeutig überliefert ist, wie er sich ernährt hat. Für die real anwesenden Gäste, die das rücksichtslose Auffressen von unschuldigen Tieren aus ihrem Leben verbannt hatten, hieß es da nur: ‚Mahlzeit‘.
Warum eigentlich sind einem die eigenen Geschwister oft suspekter als manch fremde Menschen? Biologische Verwandtschaft schafft eben noch keine menschliche Nähe. Wer nur Vater und Mutter gemeinsam hat und sonst nichts, bleibt distanziert. Wie krank ist die Menschheit eigentlich? Und er, er sollte seine vegane Lebensweise vor diesen Menschen, die ernährungstechnisch betrachtet noch in der Steinzeit verhaftet waren, rechtfertigen? Geht’s noch? Jedes Jahr zu Weihnachten sollte er sich dann den hämischen Kommentaren von Mitgliedern seiner scheinheilig pseudo-harmonischen Familie hingeben, nur damit diese sich damit weiterhin über ihre eigene verkommene Barbarei hinwegtäuschen konnten? Und das am Fest zum Geburtstag des Herrn? Jesus würde sich im Grab umdrehen! Oder am Kreuz. Oder im Himmel. Oder wo auch immer. Einer solch heuchlerischen Bande von sogenannten Christen würde der Sohn Gottes jedenfalls den nackten Arsch entgegenstrecken.
Wütend sprang er vom Computer auf. Eines stand für ihn fest: sollte er dieses Jahr das Weihnachtsfest noch erleben, so würde er es nicht in der Gesellschaft von Fleischfressern und Nazis verbringen wollen!
Vielleicht bin ich in meiner Wortwahl zu drastisch? Vielleicht verletze ich mit meinem Eintrag die religiösen Gefühle meiner Mitmenschen? Vielleicht habe ich gar nicht das Recht, das schäbige Verhalten meiner Mitmenschen in solch schonungsloser Art und Weise offen zu legen?
Nein, das Recht dazu habe ich nicht – ich habe die Pflicht! ‚For how much longer do we tolerate mass murder?‘ hatte die Rip, Rig and Panic-Vorgängerband The Pop Group bereits 1980 gefragt, und die Frage war bis heute unbeantwortet geblieben. Massenmorde, jeden Tag, überall – aber uns betrifft das zum Glück nicht: wir müssen sie ja nicht sehen. Das Töten selbst erledigen freundlicherweise andere Menschen für uns. Wir dürfen uns dann an den für uns ach so genehmen Früchten dieses sinnlosen Mordens laben. Warum essen wir dann nicht gleich Früchte, statt damit Tiere zu füttern, um dann die Tiere zu ermorden und uns ihre Kadaver einzuverleiben?
Er war immer noch aufgebracht, aber langsam stieg in ihm die Gewissheit auf, dass er zum jetzigen Zeitpunkt nicht viel mehr tun könnte, als durch seine Art der Lebensführung einen Gegenentwurf sichtbar zu machen – auch wenn er dafür von mitleidigem Belächeln bis hin zur wüsten Beschimpfung so ziemlich jede Form der Ablehnung erfahren hatte, die man sich vorstellen kann. Nein, hinter diese Position wollte er nicht zurück – Mord ist ein Verbrechen. Punkt. Mörder als Mörder zu benennen ist kein Verbrechen – es ist die traurige Realität.
Allmählich legte sich sein Zorn. Nicht weil sich an der Sache irgendetwas geändert hatte, sondern weil er sich der Aussichtslosigkeit seines Unterfangens bewusstwurde: Der Menschheit war es zwar technisch gelungen, sich ins Weltall aufzumachen, aber mental war man irgendwo in grauer Vorzeit stecken geblieben. Dabei wäre Zeit ein probates Mittel, um die Entwicklung und die Bedeutung des Menschen zu veranschaulichen. Wenn man die gesamte Erdgeschichte betrachtete – nach aktuellen Berechnungen immerhin 4,57 Milliarden Jahre, also 4570 Millionen Jahre – und sich aus Gründen der Übersichtlichkeit und der Veranschaulichung die gesamte Erdgeschichte als einen Tag vorstellt, also ausgehend vom Beginn der Erde um 0 Uhr und dem jetzigen Zeitpunkt als Vollendung der 24. Stunde, dann kommt man in der Entwicklung des Lebens auf folgende Vergleichsgrößen:
00:00:00 Uhr Entstehung der Erde (wie auch immer)
04:00:00 Uhr Einzeller (wo auch immer)
11:00:00 Uhr Photosynthese (warum auch nicht)
21:30:00 Uhr Wirbeltiere (wozu auch immer)
22:55:00 Uhr Säugetiere (was auch immer man dazu zählt)
23:45:00 Uhr Primaten (nach wie vor)
23:54:00 Uhr Menschenaffen (wie wir)
23:59:22 Uhr Homo habilis (2 Millionen Jahre vor Neandertaler)
23:59:56,4 Uhr Homo sapiens
23:59:59,8 Uhr Ackerbau und Viehzucht.
Wäre die Geschichte unseres Planeten also die Geschichte eines einzigen Tages, dann würde der Mensch in seiner gegenwärtigen Form 3,6 Sekunden vor Mitternacht auftauchen. Ackerbau und Viehzucht wären 0,2 Sekunden vor Ende des Tages entwickelt worden.
Noch eindrucksvoller wird es, wenn man nicht nur die Erde,
sondern das gesamte Universum betrachtet.
Unser Kosmos ist nach derzeitigem Wissensstand vor knapp 14 Milliarden Jahren entstanden. Die Entwicklung unserer Milchstraße fand statt, als das All etwa zwei Milliarden Jahre alt war. Die Sonne war nach neun Milliarden Jahren zum ersten Mal sichtbar. Wäre die Geschichte des Weltalls in diesem kosmischen Kalender auf ein Jahr herunter gerechnet, käme man zu folgenden Zahlen: An Neujahr um 0 Uhr findet der Urknall statt. 15 Minuten später wird der Urzustand aus Materie und Strahlung transparent und die kosmische Hintergrundstrahlung tritt erstmals auf. Am 22. Januar entstehen die ältesten bekannten Galaxien. Unsere Milchstraße bildet sich dann Mitte März. Die Sonne leuchtet im kosmischen Kalender dann erstmals Anfang September, und knapp vier Tage später gibt es dann auch die Erde. Die ersten bekannten Lebensformen entwickeln sich um den 21. September. Ende Oktober bildet sich dann Sauerstoff in der Atmosphäre. Fische bevölkern ab etwa einer Woche vor Heiligabend die Meere, die Entstehung der Insekten datiert am 21. Dezember – und die Saurier erscheinen am ersten Weihnachtstag. Die ersten Vögel fliegen am 27. Dezember. Die ersten Affen gibt es dann am Silvestermorgen um 6 Uhr. Die ersten Vorläufer des Menschen sind ab 22 Uhr 30 am Silvesterabend unterwegs, und die Antike startet kurz vor Mitternacht. Die technische Zivilisation gibt es ab 23:59:59,9 Sekunden – also die letzten Bruchteile einer Sekunde des gesamten Jahres. Nach diesem Modell würde selbst ein hundertjähriges Menschenleben nicht einmal eine Zehntelsekunde dauern.
Uff. Jetzt kam er sich wirklich klein vor.