Kapitel 35

17. Dezember

Der 17. Dezember war ein guter Tag für die Musik – wer da alles Geburtstag hatte:
der Blues-Harp-Spieler Paul Butterfield, der Sänger Paul Rodgers von „Free“ und „Bad Company“, Carlton Barrett, der Drummer von „Bob Marley and the Wailers“,… Der 17. Dezember war aber auch ein schlechter Tag für die Musik – wer da alles Todestag hatte: Grover Washington Jr zum Beispiel, oder Dick Heckstall-Smith, und natürlich Captain Beefheart. Wenn so viele Besonderheiten an einem Tag zusammenfallen, ist der Tag dann überhaupt noch etwas Besonderes? War es vielleicht an der Zeit, mit den Beschreibungen des Lebens und Wirkens anderer aufzuhören, zumal ja gerade die Zeit immer knapper wurde? Was war mit seinem eigenen Leben, seinem eigenen Wirken? Konnte man das zum jetzigen Zeitpunkt irgendwie zusammenfassen? Er beschloss, nicht selbst seinen eigenen Nachruf zu verfassen, sondern bis zum Ende immer noch nach vorne zu blicken. Was würde er sich selbst auf die Fahnen schreiben, wenn es darum ginge, den eigenen Anspruch zu formulieren? Er setzte sich hin und begann zu notieren:

Ich habe Zeit meines Lebens immer wieder gute Erfahrungen damit gemacht, in schwierigen Situationen mich auf eine Taktik zu verlassen, die man in ihrem Aufbau wie folgt beschreiben könnte:

1 – Vergangenheit: Wenn man etwas als falsch erkannt hat, sollte man es bleiben lassen. Nicht irgendwann – man sollte es sofort bleiben lassen.

2 – Gegenwart: Das unmittelbare Weglassen von als falsch erkannten Handlungsweisen schafft ein Vakuum, denn man will die bisherige Vorgehensart ab jetzt nicht mehr praktizieren. Dieses Vakuum bildet aber auch einen Raum, aus dem sich neue Ansatzpunkte ableiten lassen.

3 – Zukunft: Das Wahrnehmen dieses Raums bildet die Basis für weitere Handlungen, insofern man nicht auf altbewährtes und daher nicht mehr hinterfragtes Handeln zurückgreift, sondern eine neue und ganz eigene Methodik entwickelt.

Er las noch einmal das Geschriebene. Es drückte schon die Absicht aus, die er verfolgte, aber: was bedeutet das nun konkret? Ihm fiel auf, dass er in allen drei Punkten „man“ geschrieben hatte. Wer war das – man? Warum diese unpersönliche Redewendung? Er schrieb doch über sich und seine Perspektive. Also fing er noch mal von vorne an:

1- Wenn ich mein bisheriges Leben Revue passieren lasse, so komme ich nicht umhin festzustellen, dass ich immer wieder Täuschungen aufgesessen bin. Diese Täuschungen wurden verursacht durch oberflächliche Betrachtung, durch den Einfluss anderer Menschen und manchmal auch schlichte Unwissenheit, gepaart mit dem Wunsch, einen festen und unveränderlichen Standpunkt einzunehmen. Es müssen aber nicht immer die anderen sein, die mich täuschen – vielleicht bin ich es auch selbst. So oder so muss aber Schluss damit sein, denn wenn ich mich nicht selber und andere täusche, dann kann ich auch nicht enttäuscht werden.

2- Das zugrunde liegende Muster ist der Wunsch nach Sicherheit. Der Preis der Sicherheit ist aber der Verlust von Freiheit. Schon Dostojewski wusste, dass dem einfachen Menschen wirkliche Freiheit unmöglich ist, da sie die Aufgabe der Sicherheit zur Folge hätte. Auch ich hatte mich immer auf der Suche nach Freiheit gewähnt und hatte mir dabei insgeheim gewünscht, meine Sicherheiten nicht aufgeben zu müssen.

3- Heute weiß ich, dass das nicht möglich ist. Diese Erkenntnis ist zugleich erschreckend und bereichernd: erschreckend deshalb, weil mir bewusst wird, wie fragil doch ein solch komplexes Konstrukt wie unser Leben in Wirklichkeit ist; und bereichernd, weil es mir einmal mehr vor Augen führt, dass diese Paradoxie die einzig vernünftige Betrachtungsweise ist: eine Erkenntnis, die alle bisherigen Erkenntnisse integriert und gleichzeitig ignoriert.

Erneut überflog er das soeben Niedergeschriebene, und er war der Ansicht, dass es zwar schon besser formuliert sei, aber eben noch nicht gut. Es musste noch kürzer gehen, noch mehr auf den Punkt kommen und in möglichst wenigen Worten seine Gemütsverfassung zum Ausdruck bringen. Mit diesem Entschluss verfasste er folgendes Credo:

1 – Erkenntnis: Selbsttäuschung beenden

2 – Konsequenz: Unsicherheit ertragen

3 – Ziel: eine von Weltanschauungen befreite Weltanschauung.

Das war gut.

Das konnte man so stehen lassen.

Selbst wenn es das letzte gewesen wäre, was er geschrieben hatte: Mit diesen drei formulierten Zielen konnte er gut leben. Aber: könnte er damit auch gut sterben?

„Wir müssen lernen, auf neue Art zu denken.“ Der Geschäftsführer war mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor den Zuhörern auf und ab geschritten. „Mit diesem Satz von Bertrand Russell aus dem sogenannten Einstein-Russell-Manifest von 1955 begrüßen wir den letzten noch fehlenden Mitarbeiter an unserem Projekt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen noch einige wichtige Informationen bezüglich des soeben eingetroffenen Kollegen geben. Er kommt aus dem Bereich der klinischen Psychiatrie und hat dort bei einer Gruppenarbeit eine wichtige Funktion eingenommen. Diese Arbeit verfolgt einen neuen, unorthodoxen Ansatz im therapeutischen Bereich, und wir versprechen uns eine ganze Menge von den Ergebnissen, die wir dabei erzielen konnten. Wir haben bereits einiges über seine bisherige Tätigkeit erfahren und schätzen uns glücklich, dass er seine umfassenden Erkenntnisse als Teil in unsere gemeinsame Arbeit mit einbringen wird. Bitte begrüßen Sie mit mir den Filmvorführer!“

Freundlicher Applaus ermunterte den Genannten, sich von seinem Platz am Ende des Saales zu erheben und nach vorne zu schreiten. „Danke. Danke für Ihre herzliche Begrüßung.“ Der Filmvorführer stand nun vorne am Rednerpult – so, wie er es von seiner Arbeit der letzten Wochen gewohnt war. „Ich fühle mich geehrt, heute hier bei Ihnen zu sein. Auch wenn meine bisherige Aufgabe etwas … will sagen: unerwartet beendet wurde, so bin ich dennoch hocherfreut, diesem illustren Kreis beiwohnen zu können. Auf unserer Fahrt hierher haben mir meine beiden … äähm … Begleiter bereits zu verstehen gegeben, dass in diesem Hause gewissermaßen eine Fortsetzung meiner bisherigen Arbeiten geschehen wird, und natürlich bin ich schon ganz gespannt, von Ihnen – sehr geehrter Herr Geschäftsführer – zu erfahren, wie….“

„Jaja, schon gut.“ Der Geschäftsführer klinkte sich kurzerhand in den ausufernden Monolog des Filmvorführers ein. „Unser Projekt hat sich ja auch einen zeitlichen Rahmen gesetzt, und daher erlaube ich mir, an dieser Stelle das Wort zu ergreifen. Sie haben in Ihrer Funktion als Filmvorführer tatsächlich eine beachtliche Vorarbeit zu dem geleistet, was wir nun gemeinsam fortführen wollen.“

„Ääähm … ja, danke sehr, Herr Gesch…“

„Was wir aber noch klären müssen, ist die Rolle, die Sie in dieser gesamten Unternehmung eigentlich spielen.“

„Rolle spielen? … Oh ja, natürlich Herr Geschäftsführer, ganz wie Sie…“

„Wenn Sie mich bitte nicht dauernd unterbrechen möchten, ja?“

„Ja, natürlich. Also, ich meine, nein – natürlich nicht. Entschuldigung, Herr Geschäftsführer.“

„Danke. Ich möchte Sie nun zwei Menschen vorstellen, die Sie während Ihrer bisherigen Arbeit in unserem Institut ja bereits kennen gelernt haben, und die Ihre Filmvorführungen leider etwas früher verlassen mussten, um hier mit uns das Projekt vorzubereiten.“ Der Geschäftsführer hob den Kopf und streckte den rechten Arm aus, um zwei Personen herbeizuwinken, die im Auditorium im Kreis der Mitarbeiter saßen. Die beiden Angesprochenen erhoben sich von ihren Plätzen. „Bitte begrüßen Sie mit mir Frau Doktor Starr und Herrn Professor Feder.“ Höflicher Beifall begleitete die beiden Genannten auf ihrem Weg nach vorne. Als der Filmvorführer die beiden erblickte, zuckte er kurz zusammen.

„Aber… aber…“ Die Verwunderung war ihm ins Gesicht geschrieben. „Aber das sind doch die beiden, die sich als so ziemlich einzige bei den Filmvorführungen mit ins Gespräch eingebracht hatten!“ Der Geschäftsführer blickte den fassungslosen Filmvorführer grinsend an.

„Ja, die Frau Kollegin und der Herr Kollege hatten mir bereits ausführlich von Ihrer Gruppenarbeit berichtet und einen umfassenden Report über den Verlauf der Filmvorführungen erstellt.“

„A-a-a … aber ich verstehe nicht … ich meine, aus der Art und Weise, wie die beiden argumentierten und aufgrund ihrer rhetorischen Geschicktheit hatte ich schon vermutet, dass es sich um intellektuell beschlagene Zeitgenossen handeln musste … jedoch … mit Verlaub: die Filmvorführungen waren doch ausschließlich für Patienten gedacht.“

„Kunden, lieber Herr Filmvorführer, Kunden – auf diese besondere Ausdrucksform hatten wir uns doch bereits in unserem Feedbackgespräch am 04. Dezember geeinigt.“ Der Filmvorführer hatte offensichtlich noch immer nicht ganz verstanden:

„Aber Sie hatten mir doch die Leitung der Filmschau angetragen und gemeint, dass die Reaktion und die Interaktion mit der Gruppe einen wichtigen, vielleicht sogar den entscheidenden Teil des Therapiekonzeptes ausmachten.“

„Das tun sie ja auch“, entgegnete der Geschäftsführer, „nur war es Ihnen aufgrund Ihrer … Vorgeschichte ja nicht möglich zu erkennen, dass Frau Doktor Starr und Herr Professor Feder eben keine Patienten, Kunden oder was auch immer sind, sondern die Leiter des Filmvorführungs-Projekts.“

„Die Leiter? Moment mal… also … also wir haben in einer psychiatrischen Klinik ein Experiment durchgeführt, bei dem die Ärzte als Kranke getarnt waren und sich mit mir, dem Leiter des …“

„Sehen Sie, das ist ja das Missverständnis, dem Sie aufsitzen: Sie als Patient – ich meine natürlich, Sie als Kunde – haben in dieser therapeutischen Maßnahme aufgrund Ihrer komplexen Persönlichkeitsstruktur die Funktion des Filmvorführers so verinnerlicht, dass es Ihnen nicht mehr möglich war, den behandelnden Medizinern gegenüber die Trennlinie zwischen Rollenspiel und Realität zu erkennen. Sie wurden nur deshalb zum Filmvorführer und Diskussionsleiter, weil Sie ein Filmvorführer und ein Diskussionsleiter sein wollten. Wir haben Sie gewähren lassen, denn Sie haben dieses Spiel perfekt mitgespielt – viel hingebungsvoller und glaubwürdiger, als es ein anderer Mensch – ich meine: Kunde – je hätte tun können.“

Der Mann, der sich bis gerade eben selbst noch als Filmvorführer identifiziert hatte, stand mit weit aufgerissenen Augen vor dem Geschäftsführer und stammelte.

„Sie meinen …. Sie meinen, ich bin gar kein …. oh nein … ich bin also stattdessen …. Sie meinen, ich gehöre eigentlich … auf die andere Seite des Zaunes?“

„Na, na, na, sooo drastisch würde ich es jetzt nicht ausdrücken wollen… aber, in der Tat: Sie sind nicht der, von dem Sie glaubten, dass Sie es sind.“

„Also… also…. also dann war ich gar nicht der Leiter des Tests, sondern … die Testperson?“

„Wenn Sie so wollen: ja“.

„Oooh … ooh … okay, ich verstehe…  hmmm … aber – aber eine Frage hätte ich noch.“ Der Geschäftsführer lächelte ihn mitleidig an.

„Bitte sehr – ich höre?“

„Was wurde da denn eigentlich getestet?“