Kapitel 36

18. Dezember

Abbildung des Protagonisten hinter einer Schrift ohne Groß- und Kleinschreibung, ohne Interpunktion und ohne Satzzeichen: "syntaxistenormwichtigohnegrossundkleinschreibungsatzzeichenabsätzeodersonstigestrukturellegliederungwirdeintextnahezuunlesbaresistwieindermusikeineanhäufungvonnoteninseriellerformalsrhytmusoderinparallelerformalsharmonieoderalssinguläreselementwiebeieinermelodiemachtkaumsinnwennkeinepausenenthaltensindimweltallistesähnlicheineanhäufunvonmaterieinformeinessternsoderplanetenistalsindividuellesingularitätnurwahrnehmbarwennsichdazwischenentsprechendscheinbarüberhauptnichtsmehrbefindet"

„Und?“

„Was, und?“

„Und wusstest du das schon?“

„Naja, so genau nicht – aber jetzt wo du es sagst, kommt es mir schon bekannt vor. Ja, da sieht man mal, dass wir doch immer wieder Worte verwenden, deren Bedeutung uns nur scheinbar bekannt ist. Wie sind wir jetzt eigentlich darauf gekommen?“

„Wegen Václav Havel“

„Ach ja, stimmt. Du mit deinen Jahrestagen immer. Das hatte ich gar nicht auf dem Schirm, dass heute der Todestag des tschechischen Künstlers und Politikers ist.“

„Streng genommen war er der letzte Präsident der Tschechoslowakei und der erste Präsident der Tschechischen Republik, also quasi erst der Ex-Tschechien-Präsident und dann der tschechische Ex-Präsident.“

„Ja, schöne Sache. Neues Land, alter Präsident. Aber warum auch nicht?“

„Stimmt, die haben sich wenigstens etwas getraut. Einen Dramatiker als Staatsoberhaupt – stell dir das mal bei uns vor. Wer käme denn da in Frage? Ein Schriftsteller, der politisch klar Stellung bezieht und für seine Überzeugungen sogar mehrere Jahre in Haft verbringt, um dann nach dem Zusammenbruch des alten Unrechtsregimes das höchste Staatsamt zu übernehmen. Wen hätte unser Land denn da anzubieten?“

„Gute Frage … hmmm… ich glaube, da fällt mir niemand ein. Obwohl, die Grünen haben doch mal die Schriftstellerin Luise Rinser bei der Wahl zum Bundespräsidenten vorgeschlagen, weißt du noch?“

„Ja, das war 1984. Da waren die Grünen noch grün und Luise Rinser nicht mehr braun. Natürlich hat sie haushoch gegen Richard von Weizsäcker verloren, aber – immerhin, es war ein Versuch.“

„Genau, und in Prag hat es funktioniert. Václav Havel – ein Dichter als oberster Repräsentant des Staates.“

„Ja, Havel war auch mit Frank Zappa befreundet und unterstützte dessen politische Ambitionen. Aber leider ist Zappa dann kurz darauf gestorben.“

„Und was weiß man heute noch über Havels Werk? Es wird im Allgemeinen eher dem absurden Theater zugeordnet.“

„Ja, seine Sicht der Dinge war, dass sich der Mensch in einer übertechnologisierten Welt zunehmend von seinen Idealen entfremdet. Diese Entfremdung wiederum ist die Ursache für weitere Missstände wie Umweltzerstörung oder auch den bewusst verfälschten Umgang mit der Sprache. Havel belegt das am Beispiel des Wortes ´Frieden´, das in den damaligen Ostblockstaaten zu Zeiten des kalten Krieges lediglich als ein Synonym für die Aufrechterhaltung des existierenden Systems verwendet wurde. Paradoxerweise wurde dann genau dieses System friedlich beseitigt, und Havels Auffassung des Absurden bestätigte sich langfristig als die richtige Definition der Situation. Absurd meinte im älteren Sprachgebrauch eigentlich ‚aberwitzig‘ beziehungsweise ‚irrwitzig‘.“

„Genau…“ pflichtete sein Gesprächspartner ihm bei, „…von Havel stammt der Satz: ‚Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht – sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – egal wie es ausgeht‘.“

Es kehrte ein Moment der Stille ein. Sie schauten beide unabhängig voneinander aus dem großen Panoramafenster, während sich draußen die letzten Sonnenstrahlen eines schönen und kalten Wintertages auf ihren Weg in die Nacht machten. Schön war es anzuschauen, und schön war es auch für ihn zu wissen, dass man mit guten Freunden nicht nur gute Gespräche haben konnte, sondern auch dass das gemeinsame Schweigen zum rechten Moment eine eigene Qualität hat.

„Wenn man sich das so anschaut“ fuhr der Gesprächspartner nach einer Weile der Stille leise fort, „ist es nur schwer vorstellbar, dass das Ganze keinen Sinn haben soll. Den Gedanken der Absurdität des menschlichen Daseins in Ehren, aber macht das nicht auch traurig?“

„Traurig? Nein. Weshalb auch? Wenn man sich die ganzen Protagonisten des Absurden so anschaut, von Kierkegaard über Sartre bis hin zu Camus … wahrscheinlich haben sie ja recht. Besonders Camus mit seiner Forderung nach Annahme des Absurden, um trotzdem oder gerade deshalb ein aktives und zielgerichtetes Leben zu führen, ist doch ein Musterbeispiel dafür, sein Schicksal – oder wie immer man das nennen will – anzunehmen. Und im Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit kann man dann auch akzeptieren, dass das Sein nichts anderes ist als der kurze Moment des Übergangs vom Werden zum Vergehen.“

Wieder Schweigen.

Langes Schweigen.

Dann fing man plötzlich wieder an zu reden. „Weißt du was? Das ist alles ganz schön kompliziert: Das Absurde, das Paradoxe, das Leben, der Tod…“

„Na, dann lass uns doch lieber ein Spiel spielen“, entgegnete er,

„Ein Spiel? Was für ein Spiel“ kam es zurück.

>>> „Es ist ein Gespräch, das erst vorwärts und dann rückwärts abläuft.“>>>

<<< „Ob so etwas möglich ist?“ <<<

>>> „Ja, das nennt man Krebs im Spiegel oder so.“ >>>

<<< „Gab es das nicht schon bei Douglas Hofstadter?“ <<<

>>> „Nein. Nur so ähnlich.“ >>>

<<< „Ist das dann das Selbe oder das Gleiche?“ <<<

>>> „Nichts von alledem.“ >>>

<<< „Aha. Also die Parität von Natur, Technik und Geist.“ <<<

>>> „Ja, Mensch ist Maschine.“ >>>

<<< „Maschine ist Gott!“ <<<

>>> „Gott ist Mensch.“ >>>

<<< „Ach, Nietzsche…“ <<<

>>> „Ach, Nietzsche…“ >>>

<<< „Mensch ist Gott.“ <<<

>>> „Gott ist Maschine!“ >>>

<<< „Maschine ist Mensch, ja.“ <<<

>>> „Aha. Also die Parität von Natur, Technik und Geist.“ >>>

<<< „Nichts von alledem.“ <<<

>>> „Ist das dann das Gleiche oder das Selbe?“ >>>

<<< „Nein. Nur so ähnlich.“ <<<

>>> „Gab es das nicht schon bei Douglas Hofstadter?“ >>>

<<< „Ja, das nennt man Krebs im Spiegel oder so.“ <<<

>>> „Ob so etwas möglich ist?“ >>>

<<< „Es ist ein Gespräch, das erst vorwärts und dann rückwärts abläuft.“ <<<

Dann folgte Schweigen.

Langes Schweigen.

Er war sich nicht sicher, ob seine bevorzugte Arbeitsweise zum Erkenntnisgewinn – der Dialog – wirklich in allen Lebenslagen die passende Vorgehensweise sei. Gerade eben hatte er selbst bewiesen, wo die Schwierigkeiten der Methode lagen: Hat man keinen Gesprächspartner parat, so tritt man eben mit sich selbst in den Dialog. Das wäre für schizophrene Personen kein Problem, aber da er nicht schizophren war, handelte es sich eben nicht um einen Dialog, sondern um einen inneren Monolog, und sein soeben gespieltes Spiel war nur ein Spiel mit sich Selbst – wenn auch ein sehr schönes Spiel. Das brachte ihn auf eine Idee: Wenn es – wie bei Stevenson – in jeder Person mehrere Persönlichkeiten gab, die durchaus nicht nur nebeneinander existierten, sondern vielleicht sogar miteinander koexistierten: woher konnte man dann wissen, welche der Persönlichkeiten gerade die Oberhand hatte, sprich: das eigene Denken und Handeln bestimmten? Und wenn nun dieses Vorhandensein multipler Persönlichkeiten innerhalb einer Person eben nicht als krankhafter und daher behandlungsbedürftiger Missstand betrachtet würde? Sondern als üblicher Zustand, der nicht verwerflich oder pathologisch sei, sondern einfach nur ganz normal?

Normal.

Normalität.

Das hatten wir doch schon mal als Thema. Ja, am 30. November, im Zusammenhang mit Oscar Wilde.

Moment. Habe ich gerade gedacht: Das hatten WIR schon einmal? Es muss ja heißen: Das hatte ich schon einmal. Ja – das hatte ICH schon einmal als Thema.

In Gedanken.
In einem gedanklichen Gespräch.
In einem gedanklichen Gespräch mit mir selbst.

„Komisch, dass mir das erst jetzt auffällt“, dachte er sich.

Oder sagte er sich.
Oder er dachte sich, dass er es gesagt hatte.
Oder er sagte sich, dass er es gedacht hatte.

„Komisch, dass mir das erst jetzt auffällt“. Ist Denken denn nur ein Gespräch mit sich selbst? Ein Gespräch mit anderen ist doch im besten Fall ein Austausch von Gedanken – in verbaler Form, mit Hilfe von Worten, in der Form der Sprache.

Und wenn Denken ein Gespräch mit sich selbst ist und ein Gespräch mit anderen Menschen der Austausch von Gedanken ist – ist ein Gespräch mit anderen dann nicht auch der Austausch von mit sich selbst geführten Gesprächen in Form von in Worte gefassten Gedanken?
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er vielleicht schon sein ganzes Leben lang am Inhalt dieses Buches schrieb: Gedanken, selbst gedacht oder im Dialog mit anderen entstanden, in Worte gefasst, um damit die Gedanken der anderen anzuregen und damit Teil der inneren Selbstgespräche anderer Menschen zu werden – so musste es sein.

Das war es.

So konnte es gelingen. Seine vor ein paar Tagen – am 09. Dezember – als Wunsch formulierten Überlegungen, mittels Gedanken die eigene Wahrnehmung der Welt mit anderen zu teilen, fingen plötzlich an, konkret zu werden. Es ist der Dialog, der diese Welt eröffnet – und genau daran krankte es ja auch in der modernen Gesellschaft: die Menschen sprachen nicht mehr miteinander – sie sprachen meist über einander – oder sie sprachen gar nicht mehr. Sie redeten, das auf jeden Fall, ja, und das meist unentwegt – aber sprachen sie auch miteinander? Benutzten sie die Sprache als Ausdruck der Gedanken oder plapperten sie nur so vor sich hin – wie Papageien, die irgendwann Gehörtes zwar mehr oder weniger fehlerfrei wiedergeben konnten, aber den Sinn hinter den Worten nicht erfassen konnten? Geredet wird ja viel, aber wer sagt denn wirklich etwas? „Perverted by language“, so hatte die Band The Fall mit ihrem Mastermind Mark E. Smith ein Album in den 1980ern genannt, und ich, ich habe dieses Album gehört und den Titel gelesen und mich Jahrzehnte lang damit zufriedengegeben, die Pervertierung der Sprache als solcher anzuprangern, aber die Pervertierung durch die Sprache selbst einfach hinzunehmen? Wo bleibt da der Gedanke, wo bleibt da der Geist hinter dem Gedanken, wo ist da…?

Moment.

Der Geist?

Was für ein Geist denn?

Es war ihm klar, dass – wenn er von Gedanken sprach oder über Gedanken nachdachte – nicht nur die logische Komponente mentaler Vorgänge gemeint sein konnte, sondern auch die emotionalen und irrationalen Bewusstseinsinhalte gemeint waren. Gedanken konnten auch der Versuch sein, das Gefühlte, das Triebhafte, das Animalische in eine Form zu bringen, die dann zum Austausch mit anderen geeignet war. Auch wenn es schier unmöglich scheint, Gefühle in Worte zu fassen, so gab es doch scheinbar gelungene Versuche, die einen glauben machen konnten, genau dies getan zu haben. Aber … ein Geist, der hinter den Gedanken steckt? Ganz vermintes Gelände, dachte er sich – nicht etwa, weil er sich einen Geist nicht vorstellen konnte, aber schon allein dieses Wort … ‚Geist‘.

Genauso missverständlich und tausendfach missbraucht wie ‚Seele‘, oder ‚Liebe‘, oder ‚Frieden‘, oder … ‚Gott‘. Eine befreundete Sprachwissenschaftlerin hatte ihm einmal erklärt, dass es nicht genügt, sich nur die Worte als solche zu betrachten, sondern auch die dahinter liegenden Zusammenhänge immer mit im Fokus zu haben – mit allen möglichen Missverständnissen, die sich daraus ergeben können. Das geschriebene als solches ist nur Syntax, also Zeichen und Symbole. Das eigentlich relevante an der Sprache aber ist die Semantik, sprich: die Bedeutung der Syntax, oder anders ausgedrückt:
der Sinn.