Kapitel 39

21. Dezember

„Zwei unterschiedliche und dennoch richtige Antworten auf dieselbe Frage? Können Sie diese Annahme präzisieren, Herr Filmvorführer?“

„Nun, ja, ich meine eigentlich mehrere Antworten. Also eigentlich nicht nur zwei. Es wären auch drei Antworten denkbar, wenn wir zum Beispiel in drei Gruppen arbeiten würden und…“

„Tun wir aber nicht. Das haben wir doch eindeutig festgelegt, wenn Sie das bitte zur Kenntnis nehmen würden. Zwei Gruppen. Nicht mehr und nicht weniger. Aber ich habe das Prinzip Ihrer Frage verstanden. Sie zielt auf eine eigentlich irrationale Situation hin ab. Aber … wie sind Sie denn eigentlich auf diese Idee gekommen?“

„Nun, ich hatte ja in der Anstalt, ich meine, … im Institut mit den Probanden, … ich meine, mit den Psychiatern diesen Film über den Mann angesehen, und bei seinen Kalendereintragungen hatte er ja immer historische Persönlichkeiten oder Ereignisse als prägend für sich und sein Leben dargestellt. Wie wir festgestellt haben, gibt es ja einen wie auch immer gearteten Zusammenhang zwischen seinem realen Leben, seinem Buch, dem Film und unserem Projekt hier. Ich könnte mir nun vorstellen, dass er, seit wir den Film nicht mehr sehen, an manchen Tagen vielleicht unsicher bei seiner Auswahl war und dann vielleicht mehrere Personen oder Ereignisse erwähnte, weil es auch auf seine Frage nach den Einflüssen auf sein Leben möglicherweise mehrere Antworten gibt, die zeitgleich – also am selben Tag – richtig sind, obwohl uns die Logik sagt, dass das eigentlich nicht sein kann.“

„Hmmm, interessante Theorie… Aber die ist ja überprüfbar. Wir haben den Film ja hier… Technik! … “ Der Direktor rief den Geschäftsführer herbei, „sie haben doch den Film aus dem Institut mitnehmen lassen, oder?“ „Selbstverständlich, Herr Direktor … Technik! … “ der Geschäftsführer rief einen der beiden Guards herbei, die den Filmvorführer so jäh in seinem Tun im Institut unterbrochen hatten. „Sie haben doch den Film aus dem Institut mitnehmen lassen, oder?“ Der nickte erst stumm, sah sich einen Moment um und rief dann: „Technik! … “ Daraufhin kam der zweite der beiden Männer im Laufschritt angerannt, stoppte bei seinem Kollegen, streckte wortlos die Hand mit dem Datenträger darin aus und überreichte den Film an seinen Auftraggeber. Dieser nahm den sorgfältig verpackten Gegenstand und reichte ihn ohne Worte an den Filmvorführer weiter. Dieser übergab den Datenträger kommentarlos an den Geschäftsführer.

„Nun machen Sie doch bitte.“ Das nach Dienstgraden abgelaufene Übergabezeremoniell des Filmes schien dem Direktor aufgrund der Langatmigkeit zu missfallen. „Wir haben nicht ewig Zeit! Fahren Sie die Leinwand runter und werfen Sie den Beamer an!“ Der Geschäftsführer hatte verstanden. Er drehte sich zum Filmvorführer, und obwohl dieser nahezu direkt neben ihm stand, brüllte der Geschäftsführer im Tonfall wie auf einem Kasernenhof: „Keine Zeit! Leinwand runter! Beamer an!“ Der Filmvorführer zuckte kurz zusammen. Dann rief er dem Faktotum mit lautstarker Stimme zu: „Zeit! Leinwand! Beamer!“ Der stand kerzengerade da, die nach unten ausgestreckten Arme an den Oberschenkeln seitlich stramm anliegend, den Kopf geradeaus gerichtet, und mit starrem Blick rief er seinem Adjutanten zu: „Z! L! B!“

Die Fenster im Saal wurden auf Knopfdruck verdunkelt, das Surren der an der Decke montierten herunterfahrenden Leinwand übertönte das Stimmengemenge der Anwesenden im Saal nur geringfügig und mischte sich dann mit dem sirrenden Lüftergeräusch des nun eingeschalteten Beamers.

Als alle technischen Vorbereitungen getroffen waren, verstummte das Getuschel, und eine gespannte Stille machte sich breit. Der Geschäftsführer, der Filmvorführer, das Faktotum und sein Adjutant hatten in der ersten Reihe Platz genommen. Nun trat der Direktor wieder vor das versammelte Team.

„Ich will es Ihnen ganz klar sagen: die Vergangenheit interessiert mich nicht allzu sehr. Ich möchte wissen, ob die Vermutung des Filmvorführers zutreffend ist. Wir starten mit dem Film also in der Gegenwart, heute, hier, jetzt. Bitte sehr.“ Er streckte den Arm mit ausgebreiteter flacher Hand Richtung Filmvorführer und bedeutete mit dieser Geste, dass er nun den weiteren Verlauf des Filmes zu betrachten wünschte. Der Filmvorführer nickte in Richtung des Direktors und drückte auf der Fernbedienung ‚Menu‘. Wieder erschien der Kalender, und er wählte das heutige Datum aus. Dann drückte er auf ‚Play‘. Auf der Leinwand war ein Computermonitor zu sehen. Youtube war geöffnet, und es lief ein Video mit dem Titel ‚Ratschläge für einen schlechten Redner‘. Während eine Stimme deutlich vernehmbar einen Text rezitierte, war das Bild unbewegt. Ein etwas antiquiertes Standbild, wie man es häufig auf solchen Videoportalen findet, wenn der Fokus auf dem gesprochenen Wort liegt und das Bild nur illustrative Zwecke erfüllt. Das Schwarzweißbild zeigte einen Mann mittleren Alters im Halbprofil mit weißem Hemd, Krawatte, Jackett, dazu einen Hut auf dem Kopf. Sein Blick war konzentriert und ernsthaft, aber nicht unsympathisch. Im Gegenteil: je länger man ihn und besonders seine Augen betrachtete, hatte man den Eindruck, dass dieser Mann über einen ausgeprägten Sinn für Humor zu verfügen schien. Und dann der Text:  „Immer schön umständlich … du Laie, du lächerlicher Cicero … nimmt dir doch ein Beispiel an unseren professionellen Rednern … sprich in langen Sätzen … gib stets, wovon du auch sprichst, die geschichtlichen Hintergründe … du musst alles in die Nebensätze legen … eine Rede ist, wie könnte es anders sein, ein Monolog, weil doch nur einer spricht … da jeder im Stande ist, zehn verschiedene Zahlen mühelos zu behalten, so macht das viel Spaß … wenn einer spricht, müssen die anderen zuhören. Das ist deine Gelegenheit. Missbrauche Sie …“

Das Video war zu Ende, und der aktivierte Youtube-Autoplay-Modus startete das nächste Video direkt im Anschluss. Nun sah man eine Tafel: `Das Ideal – von der CD Die komischen Deutschen‘, und es begann ein Bilderreigen mit Werken von Michael Sowa, der die Rezitation des elegant fließenden Gedichtes mit der unvergleichlichen Stimme Harry Rowohlts begleitete – bis hin zum Ende des Textes: „Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. Dass einer alles hat: das ist selten.“ Dann war auch das zweite Youtube-Video zu Ende, und der Mauszeiger auf dem Computerbildschirm klickte ‚Pause‘. Dann wurde auf dem Computer offensichtlich das Programm gewechselt, und statt online-Videos war nun Open Office geöffnet. Der Cursor auf der leeren Seite links oben blinkte, und zum einsetzenden Klappern der Tastaturgeräusche entpuppten sich nach und nach die Worte auf dem Bildschirm:

21. Dezember. Todestag Kurt Tucholsky. Kaum ein anderer deutscher Autor war so bewandert in der Beschreibung der Vergangenheit, seiner Gegenwart und der Zukunft. In Tucholsky vereinigte sich ein kritischer, ungetrübter und dennoch humorvoller Blick aufs Leben mit einer Sprachgewandtheit, die bis heute ihresgleichen sucht. Ob Gedicht, Prosa, Manifest, Pamphlet oder Schilderung: Kurt Tucholsky traf immer den richtigen Ton. Sein beharrliches Mahnen vor dem Erstarken des heraufziehenden Nationalsozialismus erscheint rückblickend wie das Rufen eines einsamen Mahners in der Wüste, dem man einfach nicht zuhören mag, wohl wissend, dass er das ausspricht, was alle betreffen wird und was doch keiner für möglich hält. Obwohl Tucholsky jüdischer Abstammung war…“

„Ja ja ja, bla bla bla … er schreibt halt wieder etwas über jemanden, den er gut findet.“ Der Geschäftsführer war sichtlich ungeduldig geworden, und sein unverblümt geäußerter Wunsch nach Aufklärung wurde seitens des Direktors unterstützt:

„So ist es. Das kennen wir nun alles schon so oder so ähnlich. Was ist denn nun mit Ihrer Theorie über mehrere richtige Antworten auf ein und dieselbe Frage?“ Der Filmvorführer jedoch ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Hier. Wenn ich nun auf der Fernbedienung auf den ‚Angle‘-Knopf drücke, dann…“

„Na dann drücken Sie doch bitte auch, und reden Sie nicht nur!“ Das Drängen des Geschäftsführers war nun schon beinahe als impertinent zu bezeichnen. „Also los!“. Der Filmvorführer drückte zunächst wie angekündigt ‚Angle‘ und dann wieder ‚Play‘.

„Where did they go? When did they come from? What has become of them now?“ tönte es hypnotisch aus den Lautsprechern, und auf der Leinwand erschien das gerahmte Bild eines Mannes, der mit heruntergelassenen Hosen auf einer Toilette saß. Seine schulterlangen gelockten schwarzen Haare und sein markanter Bart rahmten seine dunklen Augen ein, und diese blickten direkt in Richtung des Fotografierenden. Dann schwenkte die Kamera weg von dem Bild und   weiter nach links, wo an derselben Wand ein Schreibtisch stand. Der darauf stehende CD-Player wurde geöffnet und der sich darin befindliche Tonträger mit der Aufschrift ‚The grand wazoo‘ gegen eine andere Compact Disc ausgetauscht. ‚Joe’s Garage‘ war darauf zu lesen. Die Musik startete wieder, dieses Mal in einem seltsamen 11/8-Takt, und eine Baritonstimme begann zu singen: ‚These executives have plooked the fuck out of me, and there’s still a long time to go before I’ve paid my dept to society…‘

Nun bewegte sich das Blickfeld weiter nach links, und man sah eine Hand, die mit einem Filzstift auf ein Blatt Papier in Großbuchstaben notierte:

21. Dezember. Heute ist der Geburtstag von Frank Zappa. Man könnte tagelang über ihn schreiben, ohne seinen zahllosen Talenten und seiner unglaublichen Schaffenskraft gerecht zu werden: Gitarrist, Sänger, Songschreiber, Texter, Produzent, Dirigent, Multi-Instrumentalist, Programmierer, dazu noch Plattenlabel-Betreiber, zweifacher Grammy-Gewinner, Vater von vier Kindern … Zappas Oeuvre ist schier unendlich: zu Lebzeiten veröffentlichte er 63 Langspielplatten, einige davon sogar Doppel- und Dreifach-Alben, und dass, obwohl Zappa bereits mit 52 Jahren an Krebs verstorben ist. Auch nach seinem Tod kamen noch über 40 offizielle Alben heraus. Im Gegensatz zu den posthumen Veröffentlichungen von Hendrix oder Lennon waren bei den Zappa-Releases aber keine bedeutungslosen Jam-Sessions oder uninspirierten Herumdudeleien dabei.

An dieser Stelle schwenkte die Kamera weg vom Schreibtisch hin zum Fenster, zoomte nach draußen und gab den Blick auf einen atemberaubenden Sonnenuntergang frei. Im selben Moment hatte der Song im Hintergrund den Refrain erreicht. Die Musik wurde laut, sehr laut, der Drumbreak in einem 5er Metrum kündigte den Climax an und brachial tönte es nun aus den Boxen: „ I can’t wait to see what it’s like on the Outside now‘.

„Stop, stop, stop. Ich habe verstanden. Wir haben verstanden.“ Der Geschäftsführer unterbrach den Vortrag erneut. Er wendete sich mit ernster Miene an den Filmvorführer: „Was Sie uns zeigen möchten, ist, dass unser Protagonist die Frage ‚Was schreibe ich denn zum 21. Dezember‘ wahlweise beantworten könnte mit ‚Todesstag Kurt Tucholsky‘ oder auch ‚Geburtstag Frank Zappa‘. Da muss ich Ihnen leider mitteilen: Das ist doch banal. Er hätte genauso schreiben können: ‚Geburtstag Thomas Becket, Lordkanzler Englands und Erzbischof von Canterbury‘ oder von mir aus auch ‚Geburtstag Paco de Lucía, spanischer Flamenco-Gitarrist‘ – im einfachsten Fall hätte er auch notieren können ‚Wintersonnwende – längste Nacht und kürzester Tag des Jahres‘. Auch das wären korrekte und dennoch unterschiedliche Antworten auf ein und dieselbe Frage gewesen.“

„Sie haben natürlich recht, Herr Geschäftsführer“, pflichtete der Filmvorführer bei, „es gibt zahllose Ereignisse, die mit diesem Tag verknüpft sind, und wir hätten alle diese ebenso in Betracht ziehen können. Das Entscheidende aber ist…“ und nun erhob sich der Filmvorführer von seinem Sitzplatz, ging einige Schritte nach vorn und sprach jetzt zu allen Beteiligten „… das Entscheidende aber ist, wodurch diese mehreren Möglichkeiten dargestellt wurden.“ Er blickte hinüber zum nach wie vor dasitzenden Geschäftsführer. Seine direkte Blickkontaktaufnahme sollte eigentlich eine rhetorische Steilvorlage für seinen Vorgesetzten darstellen, um diesem die Möglichkeit einzuräumen, vor versammelter Mannschaft nun mit der korrekten Vollendung des Gedankenganges als blitzgescheites Brain auftrumpfen zu können. Die runzligen Falten auf der Stirn und die zuckenden Schultern des ihm eigentlich Übergeordneten signalisierten dem Filmvorführer allerdings, dass der so Angesprochene ihm ab hier nicht mehr geistig folgen konnte. Er genoss diesen kurzen Moment der Genugtuung in stiller und unsichtbarer Freude. Dann holte er zum ganz großen Schlag aus. Er wandte sich an das gesamte Auditorium und fragte: „Wodurch haben wir die unterschiedlichen Antworten erhalten? Durch welchen simplen Vorgang haben wir auf die Frage nach dem 21. Dezember die grundverschiedenen Antworten ‚Tucholsky‘ und ‚Zappa‘ erhalten? Ich könnte mir vorstellen, dass mindestens zwei Menschen hier im Raum diese Frage beantworten können.“

„Ja, das kann ich.“ Eine Frau hatte sich zu Wort gemeldet. „Bitte sehr, Frau Dr. Starr“ gab er höflich das Wort weiter. „Der eigentliche Vorgang, der die unterschiedlichen Sequenzen in Gang setzte,“ fuhr die Wissenschaftlerin fort, „war das Drücken der ‚Angle‘-Taste auf der Fernbedienung.“ „Das stimmt. Und was verursacht diese ‚Angle‘-Taste dann?… ja, Herr Professor Feder?“

„Nun, ganz einfach: ‚Angle‘ bedeutet ja einfach übersetzt ‚Betrachtungswinkel‘ beziehungsweise ‚Gesichtspunkt‘. Wir haben lediglich die Art unserer Betrachtung geändert und plötzlich etwas völlig anderes zu sehen und hören bekommen. Was wir rezipieren, hängt also davon ab, wie wir rezipieren.“

„Oder eben“, und nun reihte sich auch der Direktor in die Gemeinschaft der Wissenden ein, „oder wie man landläufig so sagt: die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters.“