Kapitel 40

22. Dezember

„Ich komme nun zum formellen Teil unseres Vorhabens.
Das Wichtigste ist die Dokumentation. Wir verwenden hierfür diese eigens zu diesem Zweck programmierte Projekt-Ablauf-Steuerungs-Software, die wir Ihnen jetzt gerne vorstellen möchten. Alles Weitere erfahren Sie nun von unserem Head of department. Bitte sehr, Fräulein Henker.“

Eine kleine, eher unscheinbare Frau mit kurzen schwarzen Haaren machte sich aus dem Auditorium auf den Weg nach vorne. Schmale Lippen und ein verkniffener Gesichtsausdruck konnten den Eindruck erwecken, dass diese Kollegin möglicherweise wenig Spaß in ihrem Privatleben hatte. Zufriedene Frauen sehen in der Regel jedenfalls anders aus. Glückliche Frauen sehen auch nach der Regel anders aus. Grußlos und ohne Anrede begann Sie Ihren Vortrag:

„An jedem der vor Ihnen stehenden Rechner ist ein client der Software installiert, das eigentliche Programm liegt zentral auf unserem Server.“ Ohne die Angesprochenen anzusehen, fuhr sie fort. „Sie haben also über Ihr Terminal alle gleichzeitig Zugriff auf die die permanent aktualisierten Serverdaten. Natürlich haben nicht alle Mitarbeiter Zugriff auf alle Daten. Das ist wichtig wegen … wegen der Sicherheit. Wir haben für Sie verschiedene personalisierte Profile erstellen lassen, für jeden Mitarbeiter ein eigenes. Sie loggen sich also mit Ihrem Vor- und Nachnamen ein. Das Passwort ist für alle identisch und lautet ‚Enigma1933§‘. Bei den Benutzerprofilen gibt es für die einfacheren Mitarbeiter wie beispielsweise Faktotum oder Adjutant das Level A), genannt ‚Paria‘. Das zweite Level B) wird auch bezeichnet als ‚Deputy‘ und umfasst weitreichendere Funktionen im Datenbankzugriff als bei Level A). Danach folgt das Level C), der Codename lautet hier ‚Mielke‘. Hierin enthalten sind alle Funktionen, die in den Permissionen von A) und B) bereits verwendet werden, aber auch spezielle Implementierungen zum Projektmanagement und zur weiterführenden Datenverarbeitung sind darin beinhaltet. Das höchste Level der Benutzerprofile ist D), dieses ist, wie Sie sich denken können, nur einmal vergeben und fungiert unter dem Namen ‚Massa‘. Hier und nur hier können beispielsweise Passwörter vergeben und geändert werden, der Zahlungsverkehr geregelt und die Klassifizierungen der Level A) bis C) zugewiesen werden. Soweit klar?“

Niemand meldete sich zu Wort. Ob das nun Zustimmung oder Negation bedeutete, war nicht klar, aber statt nochmals nachzufragen, fuhr Fräulein Henker einfach weiter fort. „Außer dem Projektmanagement ist diese Software ganz besonders wichtig zur Erfassung der Zeiten. Wir unterscheiden hier zwischen den Kategorien ‚Anwesenheitszeit‘ und ‚Arbeitszeit‘. Anwesenheitszeit ist die Zeit, in der Sie hier anwesend sind. Arbeitszeit ist die Zeit der Anwesenheitszeit, in der Sie arbeiten. Diese Arbeiten unterteilen wir in drei Bereiche: 1) ‚Projekt‘ – also der Zeit, in der Sie unmittelbar am Projekt arbeiten – sowie den weiteren Bereichen 2) ‚Intern‘ – gemeint sind hier die Zeiten, die Sie zwar für unser Unternehmen, aber nicht direkt am Projekt arbeiten – und 3) ‚Privat‘ – gemeint sind hier die Dinge, die Sie für sich persönlich erledigen. Gibt es bis hierher Fragen?“

„Können Sie uns zu den jeweiligen Bereichen bitte ein, zwei Beispiele geben?“ kam es nun von Bytes zurück. „Natürlich. Sie starten also einen Timer unter ‚Projekt‘, wenn Sie als Programmiererin beispielsweise mit dem Programmieren beginnen. Machen Sie beim Programmieren eine Pause, dann stoppen Sie diesen Timer aus der Kategorie 1) und starten anschließend einen ‚Intern‘-Timer aus der Kategorie 2), wenn Sie zum Beispiel die Aufgabe angetragen bekommen, die Espresso-Maschine zu reinigen oder die Hunde auszuführen. Für den Fall, dass nicht die Hunde, sondern Sie selbst Ihre Notdurft verrichten müssen, starten Sie einen ‚Privat‘-Timer aus der Kategorie 3), erledigen Ihren Gang, stoppen anschließend diesen Timer und setzen Ihre Arbeit fort mit 1) oder 2). Fragen?“ Nun meldete sich der sonst so wortkarge Adjutant zu Wort:

„Verstehe ich Sie recht – wir sollen jedesmal einen Timer starten, wenn wir zur Toilette gehen?“

„So ist es. Aber natürlich auch den richtigen, den `Privat`-Timer aus der Kategorie 3). Und wenn Sie fertig sind, stoppen Sie diesen Timer wieder und starten einen neuen Timer. Weitere Fragen?“ Faktotum hob die Hand.

„Wem gehören denn die Hunde?“

„Ganz einfach: es handelt sich um die Hunde unseres Projektleiters, des Herrn Direktors also. Außerdem gibt es im Haus auch noch die Katze des Herrn Geschäftsführers, aber die muss ja nicht ausgeführt werden. Weitere Fragen?“

„Ah ja, ich denke, ich verstehe“, warf Bytes ein, „Das heißt, wenn ich beim Programmieren mal eine Pause machen und mal ein bisschen mit der Katze vom Herrn Geschäftsführer spielen möchte, dann starte ich einen ‚Privat‘-Timer aus der Kategorie 3), ja?“

„Nein, falsch!“ kam es von Fräulein Henker zurück. „Einen ‚Privat‘-Timer würden Sie ja nur starten müssen, wenn Sie selbst die Toilette aufsuchen und die Katze mitnehmen würden. Das wäre dann aber praktisch Ihre als ‚Privat‘ gebuchte Arbeitszeit im Sinn eines Teiles Ihrer Anwesenheitszeit. Sollten Sie auf Anweisung vom Herrn Geschäftsführer die Katze Gassi führen müssen, wäre das eine interne Arbeit und somit ein Timer aus der Kategorie 2) zu starten. Allerdings kommt das praktisch nie vor, weil die Katze hier im Haus ein eigenes Katzen-WC hat. Weitere Fragen?“ Nun meldete sich Faktotum wieder zu Wort:

„Ich weiß, es ist ungesund, aber ab und zu rauche ich gerne mal eine. Muss ich dann auch einen ‚Privat‘-Timer aus der Kategorie 3) starten?“

„Nein, Rauchen ist ja keine private Notwendigkeit wie der Gang zur Toilette. Wenn Sie rausgehen zum Rauchen, stoppen Sie Ihren aktuell laufenden Timer und obendrein noch den Haupt-Timer – Sie wissen schon, den für die Anwesenheitszeit.“

„Aber ich bin doch nicht abwesend – ich bin doch nur Rauchen. Ich bin ja auch nach fünf Minuten wieder am Arbeitsplatz und…“

„Meine Güte, ist es denn so schwer? Rauchen ist nicht Ihre private Sache. Als Raucher fallen Sie früher oder später durch Ihren Krankheitsverlauf und den daraus resultierenden Kosten der Gesellschaft zur Last. Das können wir doch nicht auch noch unterstützen, indem wir Ihnen dieses Fehlverhalten auf Ihre Arbeitszeit anrechnen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich kenne mich da nämlich aus – ich komme ja ursprünglich von einer Krankenkasse, ääääh, ich meine, Gesundheitskasse.  Sonst noch Fragen?“

Der Adjutant hob die Hand. „Ich bin Diabetiker. Ist das Insulinspritzen denn nun eine interne oder eine private Aufgabe?“

„Wenn es eine interne Aufgabe der Kategorie 2) sein soll, dann müssten Sie dafür ein entsprechendes ToDo von Ihrem Projektmanager im System angelegt bekommen haben. Da aber der Projektmanager auf dem Level B) als ‚Deputy‘ kategorisiert ist, hat er nicht die notwendige Autorisierung, um Ihnen ein entsprechendes ToDo für Ihre persönliche Gesundheitsvorsorge anzulegen. Das könnte erst von einem Manager auf dem Level C), also einem ‚Mielke‘, veranlasst werden. Ich muss Ihnen daher leider mitteilen, dass Ihr Anliegen dann eine private Tätigkeit darstellt und Sie somit einen Timer aus der Kategorie 3) zu starten haben.“

„Ah ja, das leuchtet mir ein. Und wenn ich beim Insulinspritzen eine rauchen möchte, ist das dann auch noch Timer Kategorie 3) ‚Privat‘ oder muss ich dann wie die anderen Raucher den Anwesenheitszeit-Timer stoppen?“

„Sie machen es einem aber auch wirklich kompliziert. Sehen Sie denn nicht, dass Sie mit Ihrem Verhalten die von Diabetes verschonten Nichtraucher total unter Druck setzen? Das kann in unserem Haus so nicht akzeptiert werden. Schließlich brauchen wir ja eine einheitliche Regelung, verstehen Sie? Eine einheitliche Regelung … .“

„Entschuldigen Sie bitte. Ich meinte ja nur…“

„Jaja, ich weiß schon. Sie meinen ja nur – aber was das alles dann nach sich zieht, scheint Sie nicht im Geringsten zu interessieren. Wie dem auch sei…“

„Danke, Fräulein Henker. Ich glaube, das genügt fürs erste.“ Der Direktor hatte das Wort ergriffen. „Beginnen wir also. Starten Sie bitte Ihre Timer. Wir beginnen damit, dass wir unserem Hobby-Schriftsteller noch mal über die Schulter schauen. Bitte sehr, Herr Filmvorführer.“

„Danke sehr, Herr Direktor. Uuund…“ Er drückte auf den Play-Knopf der Fernbedienung „ … Film läuft.“

22. Dezember_Todestag Samuel Beckett_Schriftsteller_geboren als britischer Staatsbürger in Dublin_nach der Unabhängigkeit 1921 dann Ire_Sohn aus wohlhabender protestantischer Bürgerfamile_besuchte wie schon Oscar Wilde das Internat in Eniskillen_studierte Französisch und Italienisch am Trinity College_darauf folgend Lektor in Paris_lernte dort James Joyce kennen_später Psychoanalyse in London_kam dadurch mit C.G. Jung in Kontakt_später Reise nach Hamburg_besichtigte in der dortigen Kunsthalle die ins Depot verbannten Bilder mit sogenannter entarteter Kunst_danach wieder Paris_ bei einem Überfall von einem Unbekannten mit dem Messer lebensgefährlich verletzt_während des 2. Weltkrieges Rückzug ins südfranzösische Roussillon_nach Kriegsende wieder nach Paris_ anschließend äußerst produktive Schaffensphase mit ‚Warten auf Godot’_’Molloy’_’Malone stirbt’_’Der Namenlose’_

„Aber was machen Sie denn da? Wieso spielen Sie denn den Film im Schnelldurchlauf ab?“ Der Geschäftsführer war außer sich. „Das kann ja kaum jemand lesen, geschweige denn verstehen!“

„Bitte entschuldigen Sie, aber die zuständige Projektmanagerin hat mir für die Erledigung dieser Aufgabe lediglich 0,08 Stunden eingeräumt.“

„0,08 Stunden? Was soll denn das sein?“

„Das sind 5 Minuten, Herr Geschäftsführer, und da wir ja die ToDos nicht überbuchen sollen, habe ich den Film eben in vierfacher Geschwindigkeit ablaufen lassen.“

„Ach so … ach ja …. na dann …. na dann machen Sie mal … ich meine: machen Sie mal bloß nicht so weiter. Schalten Sie bitte auf normale Geschwindigkeit. Ansonsten ist das ja total absurd.“

„Natürlich, Herr Geschäftsführer. Absurd. Ich … ich meine – normal.“


_A b s u r d e s  T h e a t e r_
_U n e r f ü l l t e  E r l ö s u n g_
_S e l b s t e n t f r e m d u n g  d e s  M e n s c h e n_
_F r a g w ü r d i g k e i t  d e r  S p r a c h e_
_E x i s t e n t i a l i s m u s_


_Absurdes  Theater_
_Unerfüllte Erlösung_
_Selbstentfremdung des Menschen_
_Fragwürdigkeit der Sprache_
_Existentialismus_

„Besser so, Herr Geschäftsführer?“

„Na ja … besser, ja. Aber noch lange nicht gut genug.
Und bei weitem noch nicht gut.“