Kapitel 47

29. Dezember

„Soso, Herr Geschäftsführer, Sie wollen mir also sagen, dass Sie seit gestern praktisch pausenlos nach dem Fehler und dessen Folgen suchen?“

„So ist es, Herr Direktor. Die Doktorandin meinte ja, dass Sie die Antworten wohl kennen würden, zumal Sie dies ja am 7. Dezember bereits verlautbaren ließen und ich dachte mir, da wir ja so allmählich unter Zeitdruck geraten – um nicht zu sagen: bereits mächtig unter Zeitdruck stehen – dass Sie vielleicht…“

„Das ich vielleicht was, Herr Geschäftsführer?“

„Nun, dass Sie uns vielleicht wenigstens einen Tipp geben könnten, Herr Direktor. Wir haben enorme Datenmengen gesammelt, aber wie das halt immer so ist mit Daten: sie können stimmen, sie könnten aber auch falsch sein.“

„Kommen Sie mal mit in mein Büro, Herr Geschäftsführer. Was ich Ihnen sagen möchte, hat auf diesem Flur nichts verloren.“

„Wie Sie wünschen, Herr Direktor.“ Sie gingen an Fräulein Henkers Büro vorbei.

„Guten Tag, Herr Direktor“ rief die sonst so grußlose Medusa lautstark und mit schlecht gespielter guter Laune. „Wie geht es Ihnen heute, Herr Direktor?“ Dieser erwiderte wortlos und mit aufgesetztem Grinsen den Gruß mit einer Handbewegung und schritt dann mit dem Geschäftsführer in sein Büro.

„Donnerwetter, das ist aber ein großes Büro“ entfuhr es dem Geschäftsführer.

„Schon gut, nehmen Sie Platz.“

„Danke“. Der Geschäftsführer setzte sich hin und blickte sich um.

„Also, ich will nicht groß drumherum reden. Sie sollten wissen, dass meine Behauptung am 7. Dezember nur ein Bluff war.“

„Ein …. ein Bluff?“

„Ja, natürlich. Denken Sie etwa, wir würden hier wie die Bekloppten rund um die Uhr arbeiten, wenn ich wüsste, wo der Fehler liegt?“

„Aber … Herr Direktor …“

„Ja, ich weiß. Aber hätte ich damals schon die Schwierigkeiten eingestanden, in denen wir tatsächlich steckten, so wären uns vielleicht die Fördergelder gestrichen worden und das ganze Projekt zum Erliegen gekommen.“

„Ich verstehe … also … dann müssen wir den Fehler anderweitig finden, nicht wahr?“ Der Direktor nickte langsam und wortlos. Der Geschäftsführer fuhr fort. „Es muss eigentlich etwas ganz Einfaches sein, so leicht, dass man es übersieht, weil man es gar nicht für möglich hält. Das Problem ist nur …. “ Der Geschäftsführer wurde still, und ein besorgter Ausdruck legte sich auf sein Gesicht.

„Was ist das Problem, Herr Geschäftsführer?“

„Es könnte sein, Herr Direktor, dass das Auffinden des Fehlers uns gar nichts mehr nutzen würde.“

„Wieso?“

In diesem Moment klopfte es an der Tür. „Aaaaach, wer ist das denn jetzt?“ raunte der Direktor in sich hinein. Dann rief er mit gereiztem Unterton in Richtung Tür: „Ja, bitte?“ Die Tür wurde geöffnet. Hastig und ganz außer Atem kam Bytes ins Büro gerannt.

„Hallo Herr Direktor, hallo Herr Geschäftsführer. Ich habe gute Neuigkeiten: ich denke, wir haben Fehler gef…“ Bytes Ausführungen wurden jäh gestoppt, denn das Fräulein Henker war direkt hinter der Programmiererin hereingestürmt.

„Was fällt Ihnen ein, Bytes? Wie kommen Sie dazu, das Büro des Direktors zu betreten, ohne überhaupt ein ToDo für einen Besprechungstermin zu haben?“

„Bitte, Fräulein Henker, es ist äußerst dringend und ich kann mich jetzt leider wirklich nicht um Ihre kleinkarierte Korinthenkackerei kümmern“ warf Bytes aufgeregt dem zickigen Zerberus zackig zu, drehte sich wieder Richtung Projektleiter und fuhr fort: „Herr Direktor, es war etwas ganz Einfaches, so leicht, dass man es übersehen konnte, und ich…“

„Bytes, das wird Konsequenzen haben!“ brüllte Fräulein Henker die Programmiererin an. „Sie werden eine Abmahnung erhalten. Ich werde dafür sorgen, dass Sie…“

„Jetzt reicht es aber, Fräulein Henker!“ Nun war auch der Geschäftsführer laut geworden. „Verschwinden Sie endlich!“ Die so Angesprochene verstummte schlagartig. Mit offenem Mund blickte sie sprachlos und mit weit aufgerissenen Augen über den Rand ihrer Brille vom Typ ‚Krankenkassengestell‘ hilfesuchend zum Direktor. Der schien aber nicht gewillt, für das unfreundliche Fräulein parlierend Partei zu ergreifen. Der Geschäftsführer eilte strammen Schrittes zur Tür, packte die außer Kontrolle geratene Controllerin am Arm und zerrte sie aus dem Büro des Direktors. Vor der Tür ließ er die Nervensäge los, machte kehrt zurück ins Büro und verschloss die Tür hinter sich. Dann rief er aufgebracht:

„Mit Verlaub, Herr Direktor, aber wieso haben Sie denn diesen sich im Vorzimmer befindlichen, dumpfbackigen Irrtum der Evolution überhaupt eingestellt?“

„Ich, Herr Geschäftsführer? Ich dachte, Sie hätten diese ….. Moment mal…“

„Bitte, bitte, meine Herren, wir haben jetzt wirklich keine Zeit für diese Unperson. Wir haben den Fehler gefunden!“

„Wie bitte?“ Der Geschäftsführer konnte es kaum fassen. „Sie haben … was? … wie haben Sie das gemacht, Bytes?“

„Nun, wir haben die verwendeten Kalender-Daten eingegeben und nach den entsprechenden Personen gesucht: 12. November: Geburtstag Neil Young. 13. November: Geburtstag Robert Louis Stevenson. 14. November: Geburtstag Claude Monet….“

„Ja, schon gut, Bytes – das ist ja alles bekannt. Wenn das alles stimmt: wo liegt dann der Fehler?“

„Dann haben wir die Gegenprobe gemacht: Wir sind von den Personen ausgegangen und haben dann nach den zugehörigen Daten gesucht. Das sah zunächst auch unauffällig aus: Klaus Kinski: Todestag 23. November. Baruch de Spinoza: Geburtstag 24. November. Nick Drake: Todestag 25. November …“

„Bytes, bitte: der Fehler!“

„Genau da sind wir ja jetzt, Herr Geschäftsführer: der 25. November ist zwar der Todestag von Nick Drake, nicht aber der Todestag von Anthony Burgess.“

„Ach was … aha … wie das denn? Können Sie uns das mal ausführlicher beschreiben, Bytes?“

„Nun, das Ableben des Schriftstellers wurde zwar am Donnerstag, den 25. November 1993 bekannt gegeben, aber … Die meisten Medien haben daraufhin die verschiedenen Nachrichtenagenturen abgefragt, und es wurde dann das korrekte Sterbedatum benannt: Montag, 22. November 1993.“

„Aaaah, ich verstehe – das heißt: die Todesmeldung wurde also erst am 25.11.1993 veröffentlicht, als Burgess schon drei Tage tot war?“

„Richtig. Leider haben aber scheinbar nicht alle Zeitschriften und Internetportale ihr Handwerk ordentlich ausgeübt. Manche haben einfach das Veröffentlichungsdatum der Todesnachricht ungeprüft mit dem Sterbedatum als solchem gleichgesetzt und den guten Anthony Burgess in ihren Publikationen damit fälschlicherweise erst am 25.11.1993 ableben lassen.“

„Na, wie schön für den Herrn Schriftsteller, dass er noch drei Tage am Leben war, ohne es selbst zu bemerken, ha ha ha…“ Der Geschäftsführer war nun locker und gelöst. „Das müssen aber sehr unprofessionelle Zeitschriften sein, die so schlampig arbeiten – im Gegensatz zu Ihnen, Bytes.“

„Ääähm, ja … danke für die Blumen. Mittlerweile ist ja in den meisten Annalen das korrekte Sterbedatum vermerkt. Ein paar schlecht gewartete Websites wie zum Beispiel www.der-familienstammbaum.de haben aber nach wie vor das falsche Datum gelistet, und eines der Magazine, die für die langanhaltende Verwirrung gesorgt haben, war übrigens der Spiegel.“

„Der Spiegel? … Sie meinen: DER Spiegel?“

„Ja, genau – der Spiegel. In Heft 48/1993, erschienen am Montag, 29. November 1993, heißt es wörtlich: ‚Am vergangenen Donnerstag ist Burgess in London an Krebs gestorben.‘ Das wäre dann der 25.11. gewesen – und somit leider falsch. Korrigiert hat das dann auch keiner mehr, und wenn man im Internet nach dem Todestag von Anthony Burgess sucht, findet man bis zum heutigen Tage noch unterschiedliche und daher auch falsche Angaben.“

„Hervorragend, Bytes. Und wie haben Sie Ihre Recherche nochmals gegengeprüft?“

„Ich habe einfach der Anthony-Burgess-Gesellschaft eine Mail geschrieben, und man hat mir verbindlich und eindeutig den 22.11.1993 genannt.“

„Na, die sollten das ja wohl zuverlässig wissen, was?“ Der Geschäftsführer war nun bester Laune. „Sie sehen also, Herr Direktor, wir haben den Fehler noch gefunden. Das muss für Sie doch auch eine enorme Erleichterung sein, oder?“ Eigentlich war der letzte Satz des Geschäftsführers als rhetorische Frage gemeint – die vermeintliche Antwort ist eigentlich schon in der Frage selbst enthalten.

Eigentlich.

Aber halt nur eigentlich.

„Eigentlich hätten wir allen Grund, jetzt zufrieden zu sein.“

„Wieso nur eigentlich?“ Bytes verstand die Bedenken des Direktors nicht. „Ich meine – jetzt ist doch theoretisch alles klar, oder?“

„Theoretisch ja – aber was bedeutet das in der Praxis?“

„Ich fürchte, ich weiß jetzt auch nicht, was Sie damit meinen.“ Auch der Geschäftsführer schien dem Gedankengang des Direktors nicht folgen zu können. „Sehen Sie, Bytes hat den Fehler gefunden – alles andere ergibt sich daraus doch jetzt nahezu von selbst, oder?“

„Das ist ja das Problem.“ Der Direktor blickte die beiden Kollegen mit besorgter Miene an. „Stellen Sie sich vor: Wenn Burgess‘ Todestag nicht am 25. war, dann bedeutet das doch, dass sowohl der Protagonist als auch sein Freund Effm im letzten Teil ihres Gesprächs am 25.11. einem Missverständnis aufgesessen waren – und dass, obwohl beide ein sehr gutes Gedächtnis für Jahrestage aller Art haben.“

„Na ja, okay, ’sehr gut‘ schon – aber halt eben nicht perfekt.“ Der Geschäftsführer wollte den Fall relativieren. „Das hat man nun davon, wenn man alles glaubt, was im ‚Spiegel‘ steht, ho ho ho … wenn Franz Josef Strauß das noch erlebt hätte …“ Bytes lächelte angestrengt zurück, und dem Direktor war scheinbar nicht danach zumute, es mit einer anzüglichen Bemerkung bewandt sein zu lassen. Er führte seine Überlegungen weiter fort.   

„Das bedeutet dann aber: Wenn ein unbemerkter Fehler im Leben des Protagonisten auftaucht, dann ist dieser Fehler auch Teil des Buches und somit landet der Fehler dann auch im Film und dadurch schließlich ….“ Der Direktor ließ den letzten Halbsatz in der Luft hängen und blickte nun Bytes auffordernd an, damit diese den Satz vervollständigen möge. Sie nahm die Vorlage auf und vollendete:

„ … und dadurch schließlich zieht sich der Fehler auch durch unsere Programmierung und wird somit zur Ursache des Errors im Ablauf unseres Projektes – so, wie ich das am ersten Weihnachtsfeiertag auch Dr. Starr gezeigt habe.“

„Ach du meine Güte!“ Der Geschäftsführer erkannte nach den Ausführungen das ganze Ausmaß der kausalen Verquickung. Dann spitzte er die Lippen, kratzte sich mit der rechten Hand am Kopf und gab seiner Tätigkeit des Nachdenkens durch nonverbale Laute Ausdruck:

„Hmmmmmmm……“  Nun nahm er die rechte Hand wieder herunter, erhob stattdessen die linke Hand und kratzte sich dann mit dieser an der anderen Seite des Kopfes:

„Hmmmmmmm…… hmmmmm hmmmmm“ Womöglich hätte das noch lange so weitergehen können, doch der Direktor ergriff nun das Wort und richtete es an Bytes:

„Was würde denn passieren, wenn wir das Datum ändern würden? Ich meine, wenn wir das Datum jetzt ändern würden – also quasi nachträglich?“

„Keine Chance, Herr Direktor. Wir können wohl in der Gegenwart einiges ändern – aber das hat dann erst für die Zukunft Auswirkungen. Die Vergangenheit ändern? Dafür müsste man schon Zeitreisender sein … Außerdem: wohin sollten wir es ändern? Auf den 22. November etwa? Der ist doch schon mit Terry Gilliam belegt. Das hätte erhebliche Verwerfungen zur Folge.“

„Na und? Dann schreiben wir das Kapitel Gilliam eben einfach um. Das merkt der doch gar nicht.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher, Herr Direktor.“ Der Geschäftsführer war jetzt mit dem am-Kopf-Kratzen fertig und daher wieder in das Gespräch involviert. „Bitte beachten Sie, das Gilliam mit diesen Themen bestens vertraut ist: der Zeitreisende in ‚Twelve Monkeys‘ etwa, oder der Versuch der nachträglichen Manipulation zwischen Tuttle und Buttle in ‚Brazil‘ und…“

„Ja, Sie haben ja recht … und wenn wir Gilliam ganz rausnähmen und durch irgendjemand anderen ersetzen? Es gibt doch, wie wir gesehen haben, für jeden Tag mehrere Angles, und für den 22.11. käme doch bestimmt auch eine andere historische Person in Frage, die unserem Protagonisten gefallen könnte. Bytes, geben Sie das doch mal in die Suchmaschine ein.“ Die Programmiererin ging zum Computer. Ein paar Tasten klackerten in hoher Geschwindigkeit, dann hatte Bytes ein Ergebnis.

„Hier, das wäre doch was: der 22. November ist der Todestag des Schriftstellers Aldous Huxley, Autor von ‚Brave new world‘ und ‚The doors of perception‘ und zudem der Lehrer von George Orwell …. Aldous war der Bruder des Philosophen, Biologen und Humanisten Julian Huxley, der auch erster Generalsekretär der Unesco war …. Aldous‘ Halbbruder war Andrew Huxley, der 1963 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Und … oh, das ist ja wirklich gut: Andrew Huxleys Geburtstag ist ebenfalls der 22. November. Aldous Huxleys Todestag am 22. November 1963 war also gleichzeitig der 46. Geburtstag seines Bruders Andrew …. Leider hat beides kaum jemand zur Kenntnis genommen, weil am 22. November 1963 ja auch das Attentat auf John F. Kennedy war und obwohl jeder der Huxleys für sich genommen wohl schlauer war als alle Kennedys zusammen …. “

„Ja, danke, Bytes, ich denke das genügt…“

„…und hier: Aldous Huxley war wie die ebenfalls bereits erwähnten Ludwig Wittgenstein und Bertrand Russell Mitglied der sogenannten ‚Cambridge Apostles’…“

„Bytes?“

„Ja, Herr Direktor?“

„Vielen Dank, Bytes. Das soll für jetzt genügen.“