Kapitel 49

31. Dezember

„Wissen Sie, was das Gute an der Sache ist?“
Dr. Starr blickte nachdenklich aus dem Fenster des Büros.

„Das Gute? Unser Projekt steht kurz vor dem Scheitern, und Sie sprechen von etwas Gutem?“ Professor Feder kauerte im Sessel versunken vor sich hin.

„’Gut‘ war auch nicht ganz ernst gemeint.“

„Na, dann rücken Sie schon raus damit.“

„Wir könnten jetzt praktisch eine Münze werfen, ob wir den Fehler korrigieren oder nicht. Die Chance steht 50/50. Aber egal, was wir auch tun: man wird es uns als Versagen auslegen. Einen Fehler zu erkennen und nicht zu beseitigen ist genauso falsch und unverzeihlich wie durch die Behebung eines Fehlers wissentlich neue Fehlerquellen zu implementieren. Es ist wie beim Schach: egal, wohin man den König bewegt – er ist und bleibt im Schach.“

„Ja, und das nennt man dann schachmatt.“

Nun blickten sie beide gemeinsam aus dem Fenster. Heute Nacht würde die Frist ablaufen, und das Projekt war absolut festgefahren. Es klopfte an der Tür.

„Herein“ antwortete Dr. Starr. Die Tür wurde geöffnet, und der Geschäftsführer trat ein.

„Guten Morgen allerseits … “ Die beiden Wissenschaftler erwiderten den Gruß eher mürrisch. „Ich sehe, Sie beide sind ähnlich deprimiert und müde wie das gesamte Team.“ Professor Feder blickte den Geschäftsführer konsterniert an.

„Sie sehen aber auch nicht gerade ausgeschlafen aus, Herr Geschäftsführer.“

„Bin ich auch nicht … bin ich auch nicht. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zubekommen.“ In diesem Moment piepste der Computer auf dem Schreibtisch kurz auf. „Aaaach … eine Mail… von Fräulein Henker. Das will ich jetzt eigentlich gar nicht wissen … obwohl, im Betreff steht ‚Wichtige Infos‘, und adressiert ist die Mail nicht nur an mich, sondern an ‚all users‘. Da diese wichtigen Infos uns scheinbar alle betreffen, kann ich Ihnen beiden auch gleich vorlesen, worum es geht – natürlich nur, wenn Sie mögen.“

„Na ja, ‚mögen‘ ist im Zusammenhang mit der Controllerin vielleicht nicht das richtige Wort. Was schreibt sie denn nun?“

„Bitte vergessen Sie nicht, heute Abend um 23:59:59 Uhr Ihre Timer zu stoppen, damit Ihre Anwesenheitszeit auch korrekt gebucht wird. Ha ha, das ist ja lustig. Als ob das jetzt noch eine Rolle spielen würde.“

„Natürlich nicht, Herr Geschäftsführer, natürlich nicht. Warum sollte es jetzt noch eine Rolle spielen – es hat ja auch vorher noch nie eine Rolle gespielt. Außer für Fräulein Henker natürlich.“

„Jetzt muss ich aber unsere Controllerin auch mal in Schutz nehmen.“ Der Einwurf von Professor Feder überraschte seine beiden Mitstreiter. „Zum einen wäre ohne die Programmablaufsteuerungssoftware unser kollektives Scheitern hier nicht so exakt und penibel dokumentiert. Zum anderen: denken Sie doch bitte daran, was die Wissenschaft solchen Chronisten des Verfalls wie Fräulein Henker zu verdanken hat.“

„Ja. Ääähm … ja – was denn zum Beispiel?“ Der Geschäftsführer war sichtlich erheitert. „‘Chronistin des Verfalls‘ würde ich so stehen lassen, aber…  ‚verdanken‘, Professor Feder?“

„Nun ja, bedenken Sie doch bitte, wie viel fundiertes Wissen nie über den Status von bloßen Thesen hinausgekommen wäre, wenn diese keine praktischen Entsprechungen in Form real existierender Personen hätten.“

„Zum Beispiel?“

„Der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman zum Beispiel prägte den Begriff Cargo-Kult. Ursprünglich bezeichnete er damit die oberflächliche Imitation der Handlungsweisen von erfolgreichen Menschen.“

„Ah, ich verstehe. Sozusagen ein geistiges Plagiat.“

„Ja, aber nicht nur das: Feynman erweiterte die Definition des Cargo-Kultes später um die Termini einer ‚formell zwar richtigen, aber ansonsten sinnlosen Arbeitsweise‘ sowie einem ‚bizarren Gegensatz zwischen zur Schau getragener scheinbarer Umtriebigkeit und realer Wirkungslosigkeit des eigenen Handelns‘.“

„Oho, ich verstehe. Ja, die Theorien Feynmans haben spätestens seit dem Auftauchen von Fräulein Henker in diesem Haus etwas erfahren, das man bezeichnen könnte als … na … ich benenne es mal als leider äußerst wahrhaftige Manifestation.“ Der Geschäftsführer hatte das Prinzip verstanden und hakte nach: „Von Feynman stammt doch auch das Zitat ‚Ich finde es weit interessanter, so zu leben, dass man nichts weiß, anstatt Antworten zu haben, die möglicherweise falsch sind´.“ Alle drei schmunzelten, und der Geschäftsführer wandte sich an Dr. Starr: „Gibt es noch mehr Beispiele aus der Wissenschaft zu diesem Thema?“

„Ja, mir fällt dazu auch etwas ein, dessen wissenschaftlicher Nachweis zwar noch aussteht, das aber dank unserer Controllerin jetzt auch eine sehr eindrucksvolle Entwicklung von der bloßen Lehrmeinung zum erstaunlich kongruenten Bio-Mutanten erfahren hat: Der Dunning-Kruger-Effekt.“

„Oh, den kenne ich noch gar nicht.“ Der Geschäftsführer hakte nach. „Was ist das, Dr. Starr?“

„Der Dunning-Kruger-Effekt besagt, dass inkompetente Menschen ihre Fähigkeiten maßlos überschätzen. Sie erachten daher ihre eigene Arbeit für besonders wertvoll, weil ihnen der persönliche niedrige geistige Horizont es leider nicht ermöglicht, ihre eigene Bedeutungslosigkeit angemessen zu erkennen. Unser Protagonist hatte Sokrates erwähnt und die Feststellung ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß.‘ Für Menschen wie unsere Controllerin, bei denen der Dunning-Kruger-Effekt zutreffend ist, müsste es dann entsprechend heißen: ‚Ich weiß nicht, dass ich nichts weiß.’“

„Ha ha, ja, das ist gut…“ Professor Feder hatte verstanden. „…das werde ich mir merken.“

„Mir ist die ganze Zeit etwas durch den Kopf gegangen, worauf mich der Filmvorführer gestern noch aufmerksam gemacht hat.“ Dr. Starr richtete ihren Blick nun wieder weg vom Fenster und hin zum Geschäftsführer. Sie verschränkte die Arme und sah ihr Gegenüber mit erwartungsvollen Augen an. Der fuhr fort: „Ich weiß, es mag komisch klingen, und vielleicht mag es aus wissenschaftlicher Sicht auch nicht allzu plausibel sein, aber… aber könnte es sein, dass der Möchtegern-Schriftsteller uns vielleicht bewusst an der Nase herumgeführt hat, um uns damit ein Zeichen zu geben?“

„Wie auch immer … wenn, dann muss es irgendwo doch einen Hinweis geben. Haben wir wirklich alles angesehen, was es in diesem Film zu sehen gibt?“

„Der Filmvorführer sagte mir, dass dem so wäre, und der Film und das darin beinhaltete Buch sind ja die einzigen Informationen, die wir haben, oder?“

„Nicht ganz.“ Jetzt klinkte sich Dr. Starr ins Gespräch ein. „Nicht ganz, will ich meinen. Mit der rein sprachlichen Analyse des vorhandenen Materials sind wir durch – das denke ich auch. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es irgendwo in seinem Leben oder in seinem Buch zu einer Äußerung einen gedanklichen Hintergrund gibt, den wir nicht beachtet haben … irgend etwas, das nicht explizit gesagt, aber implizit gemeint ist.“

„Sie meinen …. es gibt vielleicht so eine Art Subtext?“

„Ja, eine Verklausulierung … ein Chiffre …“

„Sie meinen, eine Art Metapher?“

„Oder  … eine Allegorie?“

„… eine Parabel?“

„Möglicherweise ein Symbol?“

„Ja, ja, ja … alles richtig… alles korrekt … alles das Gleiche …

Wir meinen doch alle das Gleiche!“

„Wir meinen doch alle das Gleiche!“

„Wir meinen doch alle das Gleiche!“

Die drei verstummten abrupt. Nun sahen sie sich gegenseitig an. Die Überraschung stand ihnen noch in die sprachlosen Gesichter geschrieben.

„Was … was war das denn?“ Der Geschäftsführer war wie benommen. „Wir haben alle drei zur selben Zeit dieselben Worte gesagt…. Professor Feder, haben Sie eine Erklärung?“

„Eine Synchronizität!“

„Schnell! Bevor der Gedanke weg ist – lassen Sie uns bitte alle aufschreiben, was Ihnen durch den Kopf ging, als Sie ausriefen ‚Wir meinen doch alle das Gleiche!’“ Dr. Starr gab den beiden Kollegen einen kleinen Notizzettel und einen Stift. „Bitte schreiben Sie das auf und drehen Sie den Zettel um, so dass ihr Geschriebenes nicht gesehen werden kann. Also…“ Alle führten die Anweisung der Psychiaterin umgehend aus. Dann legten Sie die Zettel nebeneinander auf den Tisch, mit der unbeschrifteten Rückseite nach oben.

„Das ist ja fast schon wieder lustig.“ Professor Feder war offenbar über seine unvoreingenommene Teilnahme an diesem Experiment selbst am meisten überrascht.

„Ja, wie damals in der Schule“ fügte der Geschäftsführer lachend hinzu.

„Also, obwohl die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, dass auch nur zwei der drei Notizen annähernd ähnlich oder sogar gleich sind, möchte ich dennoch hinzufügen, dass das Thema Synchronizität zwischen dem Psychologen Carl Gustav Jung und dem Physiknobelpreisträger Wolfgang Pauli bereits ab 1948 äußerst seriös und mit wissenschaftlicher Exaktheit thematisiert wurde.“

„Ja, die transdisziplinäre Arbeitsweise ist kein Novum unseres Projektes hier …“ fügte Professor Feder schmunzelnd hinzu „…und falls ich mir die Bemerkung erlauben darf: von Wolfgang Pauli stammt ja auch der Ausspruch ‚Ich kann es mir leisten, nicht zitiert zu werden.’“

„Also, Frau Dr. Starr, wenn ich Sie recht verstehe: wenn auch nur zwei der drei Zettel einen identischen Inhalt hätten, könnten wir davon ausgehen, dass das, was wir mit unserem Projekt erreichen wollten, eigentlich schon längst existiert?“

„Ja, so könnte man das nennen. Auch wenn es keine kausale Beziehung im Sinne einer Ursache gibt, so ist die Existenz des Synchronizotät-Phänomens doch unbestritten.“ Nun klinkte sich auch Professor Feder wieder ins Geschehen ein. „Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber wir sollten die Auflösung unseres Tests nicht aus den Augen verlieren.“

„Ja, Sie haben recht“ gab der Geschäftsführer hinzu. „Aber da wir ja heute sowieso noch den Rest des Tages hier sein werden, schlage ich vor, die Spannung zu erhöhen und uns heute um kurz vor Mitternacht zum gemeinsamen Umdrehen der Zettel zu treffen und dem Projekt dadurch einen würdigen Abschluss zu verleihen.“

Um Punkt 23 Uhr 55 Minuten kamen der Geschäftsführer und Professor Feder wieder in Dr. Starrs Büro. Die Zettel befanden sich noch genau so auf dem Tisch, wie sie am Vormittag dort abgelegt worden waren.

„Es ist fünf vor 12. Geradezu symbolisch.“

„Ja, in der Tat. Wir könnten die Zettel eigentlich auch pünktlich zum Jahresende umdrehen. Was halten Sie davon?“

„Ja, gute Idee.“

„In Ordnung, ich bin auch dabei.“

Stilles Warten vereinte die drei. Die Minuten vergingen, ohne dass noch irgendein Wort gewechselt wurde. Dann blickte der Geschäftsführer auf seine Uhr.

„Also denn …

… fünf …

… vier …

… drei …

… zwei …

… eins …

… und Umdrehen!“

Durch das Fenster konnte man das Feuerwerk zum Jahreswechsel sehen. Das Knallen der Böller vermischte sich mit Glockenläuten in der Ferne. Im letzten noch besetzten Büro standen drei Menschen vor einem Tisch, auf dem die drei nun umgedrehten Zettel lagen.

Dr. Starr und Professor Feder hatten sich beim Umdrehen der Zettel die Augen zugehalten und diese selbst auferlegte Steigerung der Ungewissheit auch noch beibehalten, nachdem der Geschäftsführer bereits einen Blick auf den Tisch gerichtet hatte.

„Sehen Sie sich das an!“ entfuhr es dem Geschäftsführer. „Sehen Sie sich das an ….“ Dr. Starr und Professor Feder nahmen die Hände vor den Augen weg. Nun blickten alle drei verdutzt und ungläubig auf die Zettel:

Drei umgedrehte Zettel auf einem Tisch. Auf jedem Zettel die Aufschrift "49"