Kapitel 44

26. Dezember

„In Ordnung, dann starte ich mal den Timer, Herr Professor Feder … so, mein Projektmanager hat mir für dieses ToDo 0,75 eingeräumt – das sollte eigentlich reichen, oder?“

„Na, wenn nicht, dann buchen Sie halt auf intern weiter.“

„Das wäre aber streng genommen falsch.“

„Wissen Sie was?“ Professor Feder hielt kurz inne. “Diese kleingeistige Zeiterfassung kann einem wirklich den Nerv rauben. Als ich noch mit meiner Dissertation beschäftigt war, so wie Sie jetzt, da haben wir einfach an unseren Projekten gearbeitet. Tag und Nacht gearbeitet haben wir, wie die Besessenen, und es gab für uns nichts anderes als unsere Arbeit. Wir haben unsere Forschungen gelebt, wir haben sie geliebt, unsere Arbeit war quasi unser Lebenselixier – außer natürlich dem Kaffee, he he“. Professor Feder lächelte kurz, und die Doktorandin erwiderte die seltene Gefühlsregung ihres Teamleiters mit einem Grinsen. „Apropos: wie wäre es denn, wenn Sie uns beiden einen Espresso holen würden?“

„Sehr gerne, Professor Feder. Dann stoppe ich nur eben kurz mein ToDo und starte…“

„Ach nein – vergessen Sie’s bitte wieder. Das wird mir sonst zu umfangreich.“

„Also ich finde das System der Zeiterfassung gar nicht schlecht. Es ist fair, es ist transparent, und es …“

„Ja, schon gut. Sie kennen das nicht anders. Ich komme noch aus einer Zeit, wo in der Wissenschaft der Inhalt über der Form stand. So soll Forschung eigentlich sein: nach vorne gerichtet, innovativ, ergebnisoffen – und immer freigeistig!“

„Oh ja, das klingt großartig!“

„Ja, so klingt es, und so war es auch mal. Großartig. Ich bin nun wirklich kein Mensch, der gerne rückwärts schaut. Von mir werden Sie solche Sätze wie ‚Früher war alles besser‘ nicht hören. Es ist mittlerweile Allgemeingut geworden, wenn man feststellt, dass das Leben nur vorwärts gelebt aber nur rückwärts verstanden werden kann. Doch um dieses Verständnis entwickeln zu können, müssen Sie sich erst mal nach vorne bewegt haben, verstehen Sie? Nach vorne.“

„Ja, ich verstehe was Sie meinen.“ Das Angesicht der Doktorandin war durch den leidenschaftlichen Vortrag Professor Feders ins Leuchten geraten. Die offensichtliche Begeisterung seiner Zuhörerin spornte den Teamleiter weiter an:

„Wenn wir Neurobiologen ein Verständnis der Funktionen im menschlichen Gehirn entwickeln wollen, dann schauen wir uns uralte Materie an, die sich über Jahrmillionen entwickelt hat: die Amygdala beispielsweise, die wir Menschen praktisch noch mit den Reptilien gemeinsam haben – erforscht, und dennoch nicht zur Gänze bekannt. Der Hippocampus am Temporallappen als zentrales Element des limbischen Systems – daran haben unsere Vorgänger sich schon ein Leben lang abgemüht, aber es gibt immer noch vieles, was wir darüber nicht wissen. Soweit bekannt, ist das der Ort, der Wünsche und Erinnerungen speichert und diese möglicherweise sogar erzeugt. Ein Zwischenspeicher, wohlgemerkt – denn das Hirnareal, in dem die Langzeitspeicherung stattfindet, ist Ihnen als Doktorandin der Linguistik ja möglicherweise bekannt?“

„Ich denke, ja. Sie meinen den Neocortex.“

„Genau davon spreche ich, und hier sollten wir auch ansetzen, wenn unser Projekt jetzt in die entscheidende Phase geht. Wenn man zum Beispiel ein Unfallopfer mit posttraumatischer Belastungsstörung zur Behandlung vor sich hat, dann könnte man durch Modulation am Neocortex die negativen Erinnerungen des Patienten erträglicher machen.“

„Könnte man diese retrospektiven Elemente damit dann nicht nur manipulieren, sondern auch gänzlich elimimieren?“

„Ja, auch das wäre denkbar. Und sogar noch mehr: Sie könnten durch gezielte Eingriffe in diesem Bereich auch neue Perzeptionen erzeugen. Denken Sie an die Optogenetik: Diese technische Methode arbeitet – vereinfacht dargestellt – nach dem Prinzip der Solarzelle: mittels Lichtbestrahlung wird Energie erzeugt, die dann als Impuls die Erinnerung verändert. “

„Wow, das klingt fantastisch. Man könnte also nicht nur Erinnerungen verändern oder entfernen, sondern auch Erinnerungen erzeugen, die die betreffende Person gar nicht gehabt hat?“

„Ja, so ist es. Ob ‚Erinnerung‘ dann noch der Terminus der Wahl wäre, wage ich zu bezweifeln. Ich würde den Begriff ‚Bewusstseinsinhalt‘ hier bevorzugen.“

„Und das ist es, was wir hier tun werden?“

„Nun, nicht im klinischen Sinn. Wir werden hier nicht irgendwelche Operationen oder ähnliches durchführen. Es ist auch kein rein medizinisches Projekt, sondern den Fachbereich übergreifend. Wir stellen unsere Erkenntnisse in den Dienst eines größeren Zusammenhanges.“

„Und in diesem größeren Zusammenhang sind dann auch die Computerspezialisten zu sehen?“

„Richtig. Sie kennen vielleicht das Blue-Brain-Projekt, das vor einigen Jahren gestartet ist. Zunächst ging es darum, die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns durch komplexe Modellierung am Computer zu simulieren. Über das Zwischenstadium des Blue Column mit einigen für damalige Verhältnisse doch recht beeindruckenden Ergebnissen wurde das Blue-Brain-Projekt anschließend in ein Forschungsprojekt der Europäischen Union überführt, das sogenannte Human Brain Project.“

„Also arbeiten wir für die EU?“

„Ehrlich gesagt, so genau weiß ich das auch nicht. Es erscheint mir als Forscher aber auch nicht so wichtig. Entscheidend ist – um wieder auf die fachliche Ebene zurückzukehren – wie wir die Bewusstseinsinhalte einer Person auf den Computer übertragen können. Auf diesem Gebiet ist die Forschung schon sehr weit. Komplexer wird es, wenn es darum geht, die im Computer generierten Inhalte in das Bewusstsein eines Probanden zu implementieren. Aber auch auf diesem Gebiet haben wir schon enorme Fortschritte erzielt.“

„Was fehlt denn dann noch?“

„Es fehlt uns jetzt nur noch die direkte Übertragung von Mensch zu Mensch, von Gehirn zu Gehirn, von Bewusstsein zu Bewusstsein.“

„Und daran arbeiten wir?“ Das Nicken von Professor Feder signalisierte Zustimmung.

„Die Omnipermeabilität!“ entfuhr es der Doktorandin.

„Omnipermeabilität? Was meinen Sie damit?“

„Oh, Entschuldigung, wissen Sie … manchmal habe ich den Eindruck, dass es für bestimmte Sachverhalte keine richtig zutreffenden Ausdrücke gibt, und dann erfinde ich halt einfach ein mir passend erscheinendes Wort.“

„Ach so, dann stammt der Begriff von Ihnen?“

„Oh, ehrlich gesagt weiß ich das gar nicht. Ich vermute, es ist eine Art Xenismus. Vielleicht gibt es ihn schon, vielleicht habe ich ihn mir auch nur ausgedacht.“

„Ah, ich verstehe“, Professor Feder fing zu schmunzeln an, „Sie sind also nicht nur Linguistikerin, sondern auch Neologistin?“

„Ja, wenn Sie es so nennen wollen…“ Beide lächelten, und Professor Feder wurde nun neugierig:

„Aha, interessant. Und was ist das Thema Ihrer Doktorarbeit?“

„Ich promoviere über sogenannte ‚einfache Sprache‘, bei der …“ In diesem Moment ertönte ein piepsendes Geräusch aus dem Computer. Die Doktorandin blickte auf den Bildschirm.

„Oh, mein ToDo ist um. Ich stoppe nur kurz den Timer, bitte …. so … und ’save‘.“

„Ich danke Ihnen für dieses Gespräch, Professor Feder. Sie haben mir sehr weiter geholfen.“

„Na, vielleicht wollen Sie mir auch weiterhelfen und uns jetzt einen Espresso holen?“

„Gerne“ Die Doktorandin stand auf und ging Richtung Türe.

„Ich starte hierfür extra einen Timer ‚Privat‘, damit das alles auch seine Richtigkeit hat, ha ha…“ gab ihr Professor Feder noch hinterher.

„Ja, genau, ha ha ha.“ Beide mussten lachen. Professor Feder klickte mit der Maus auf das Timer-Symbol. Doch … es geschah nichts. Er klickte nochmals. Wieder geschah nichts. Er atmete tief ein, dann wieder langsam und mit einem stöhnenden Laut aus. „Was ist denn, Professor Feder?“

„Nun sehen Sie sich das an.“

Die Doktorandin kam zurück zum Schreibtisch mit dem Computer und blickte auf den Bildschirm. Dort war ein Rad sichtbar, das sich scheinbar endlos drehte. Dann leuchtete eine grüne Hinweismeldung auf:

‚Die Verarbeitung dauert etwas länger‘