‚Sich selbst beim Denken zusehen‘, dachte er sich, und der Grad seiner Selbstbetrachtung befremdete ihn. ‚Manchmal wäre es schöner, überhaupt nicht zu denken‘, dachte er – wohl wissend, dass er dann auch nicht hätte denken können, dass es manchmal schöner wäre, überhaupt nicht zu denken. Er beschloss, zur Ablenkung nach neuen E-Mails zu sehen.
Neben dem üblichen Werbe-Spam war auch eine Nachricht einer Freundin enthalten: Miriam hatte geschrieben, das erste Mal seit langer Zeit. Miriam war nicht ihr wirklicher Name, aber sie war der Ansicht, dass es ihr „wahrhafter“ Name sei, nachdem sie an einer therapeutischen Maßnahme teilgenommen hatte – oder das, was Miriam zu diesem Zeitpunkt für eine therapeutische Maßnahme gehalten hatte.
Miriam war ein erstaunlicher Mensch: die äußerst sensitive Art der Wahrnehmung ihrer Umwelt ermöglichte es ihr, Stimmungen direkt und unverfälscht zu erfassen. Es war unmöglich, ihr etwas vorzuspielen oder sie mit einer Fassade aus vorgetäuschten Gefühlen zu blenden. Miriam konnte immer hinter die Kulissen blicken und ihr Gegenüber so wahrnehmen, wie es wirklich war.
Eine seltene Gabe, und diese Gabe erschien ihm noch seltener, wenn man betrachtet, wie leichtfertig sich die meisten Menschen lieber mit einer angenehmen Lüge als mit einer unbequemen Wahrheit beschäftigten.