Kapitel 4

16. November

Als er am nächsten Morgen erwachte, musste der Tag schon einige Stunden alt gewesen sein. Wie bei vielen Menschen, die keinem geregelten Arbeitsleben nachgingen, machte sich auch bei ihm sich ein zunehmender Verlust des Zeitgefühls breit. Um sich zu vergewissern, welcher Tag heute war, ging er zum Kalender. Dort waren auch immer historische Ereignisse des aktuellen Datums aufgelistet, und auf der Rückseite des Kalenderblattes las er: „Am 16.11.1808 erließ Kaiser Napoleon Bonaparte die französische Strafprozessordnung, den sogenannten Code d’instruction criminelle. Diese Regelung diente in der Folge in den deutschen Staaten als Vorbild zum Ende der Inquisitionsverfahren.“

Er blickte aus dem Fenster in die nachmittägliche Sonne.
‚Ja, die Inquisition‘, dachte er, ‚was war aus ihr eigentlich geworden?‘
Nun, die katholische Kirche hatte unter dem Eindruck der Aufklärung nur noch mit großen Schwierigkeiten an ihrem mittelalterlichen Weltbild festhalten können. Aber nicht die tatsächlichen Ereignisse bestimmten das Handeln und Denken des einfachen Volkes, sondern die Interpretation dieser Ereignisse. Deshalb war es zur Ausübung der Macht zwingend erforderlich, die Deutungshoheit über die Ereignisse zu behalten. Daher wurden auch nur die Inquisitionsverfahren beendet – nicht aber die geistige Grundlage der Inquisition. Dieses Instrument wurde nur in den Schrank der Geschichte verfrachtet, eingemottet, und nach rund 150 Jahren wieder ausgegraben, denn beim zweiten vatikanischen Konzil in den 1960er Jahren vertauschte man den historisch betrachtet negativ belasteten Begriff der Inquisition mit dem weit weniger verfänglichen Terminus „Kongregation für die Glaubenslehre“.

Der Bedeutung der Kongregation trug man Rechnung, indem ab 1981 ein deutscher Kardinal als Präfekt dieses totalitär anmutenden Regimes eingesetzt wurde. Als Anerkennung für seine besonderen Verdienste wurde der deutsche Kardinal dann im Jahr 2005 zum Papst gewählt. ‚Tja, wenn es um Faschismus geht, macht den Deutschen und Italienern so schnell keiner etwas vor.‘ dachte er sich.

Komisch aber auch, dass ihn in den letzten Tagen immer wieder das Thema Religion so beschäftigte und auch aufregen konnte. Religion ist eigentlich Privatsache, aber als Definition von Religion gelten unter anderem ein  „meist von einer größeren Gemeinschaft angenommener bestimmter, durch Lehre und Satzungen festgelegter Glaube und sein Bekenntnis“ und die „gläubig verehrende Anerkennung einer alles Sein bestimmenden göttlichen Macht“, aber auch „die gewissenhafte Sorgfalt in der Beachtung von Vorzeichen und Vorschriften.“

Soso, Vorschriften.

Dazu braucht es immer zwei Parteien: Jemanden oder etwas, der vorschreibt und andere, die sich etwas vorschreiben lassen. Nicht, dass er ein ungläubiger Mensch gewesen wäre – nur sind Glaube und Religion zwei komplett unterschiedliche Dinge. Der Glaube war nicht das Problem: einen Menschen, der an nichts glaubt, schilt man zu Recht einen Narren, denn er hat sich einer der wichtigsten menschlichen Regungen verschlossen: dem Vertrauen. Ohne Vertrauen kein Glaube, und ohne Glauben kein Vertrauen.

Wo aber kein Vertrauen ist, wird Kontrolle erforderlich. Kontrolle ist immer ein Zeichen des Misstrauens, und der Kontrollierende übt seine Kontrollfunktion immer in dem Bewusstsein aus, dem Kontrollierten nicht zu trauen.

Der Kontrollierte wiederum erfährt durch den Vorgang der Kontrolle, dass ihm kein Vertrauen entgegengebracht wird. Dies nimmt er dann zum Anlass, dem Kontrollierenden ebenfalls kein Vertrauen entgegen bringen zu müssen.

Konnte demnach in einer Religion, die ihren eigenen Anhängern durch Kontrolle in Form von Institutionen wie einer Glaubenskongregation begegnete, überhaupt noch Glauben enthalten sein?

Wohl kaum.

Wenn aber eine Religion sich vom Glauben getrennt hat, sich von den Gläubigen abgespalten hat, so hat sich diese Religion ihrer eigenen Grundlage beraubt. Was braucht der unmündige Mensch mehr als Glauben und Vertrauen? Und wie viel mehr muss es diesen Menschen schmerzen, dass ihm trotz seiner Hingabe im Glauben und Vertrauen nur mit Kontrolle und Unglauben begegnet wird?

Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser. Das wusste schon der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. War denn Lenin überhaupt ein Revolutionär? Sicher, er war ein Theoretiker der Revolution, aber war denn die russische Revolution überhaupt eine Revolution gewesen? Eine Revolution braucht zum Gelingen die Unterstützung der breiten Mehrheit der Bevölkerung, aber Lenin und seine Genossen waren lediglich eine überschaubare kleine Gruppe gewesen. Da Lenin und seine sogenannten Bolschewiki wussten, wo machtpolitisch der Hebel anzusetzen sei, töteten sie kurzerhand die regierende Zarenfamilie. Die breite Masse des Volkes allerdings war in diese Vorgänge nicht involviert, und man könnte die russische Revolution daher auch lediglich als eine Revolte bezeichnen. Dieser Revolte folgten dann umso umfangreichere Kontrollen des Volkes durch die selbsternannten Berufsrevolutionäre, und damit war der Glaube per se ad absurdum geführt.

Für einen gläubigen Menschen bleibt demnach nur ein Weg: er kann und darf sich keiner Religionsgemeinschaft anschließen. Dadurch aber wird er zum Heimatlosen, zum Geächteten, zum Outlaw.

Wer nirgends dazu gehört, muss seinen eigenen Weg gehen. Das Wesen des eigenen Weges ist es, erst zu entstehen, sobald er gegangen wird. Und wer sonst könnte einen noch nicht existenten Weg gehen als ein Mensch, dessen Glaube und Vertrauen stark genug wären, sich ins Unbekannte zu begeben, statt einer tumben Meute hinterher zu laufen? Daher ist der wahrhaft Glaubende ein Einzelgänger, denn er sucht die Freiheit – die Freiheit im Geiste.

Eben diese Freiheit im Geiste ist die Frucht des Vertrauens, und Freiheit ist das Gegenteil von Sicherheit, denn die Sicherheit ist der Hafen der Ängstlichen, der Unterwürfigen und der Verzagten. Wer die Freiheit sucht, kann nicht der Sicherheit folgen, denn Freiheit und Sicherheit stehen sich diametral gegenüber und schließen sich einander aus. Wer die Sicherheit wählt, gibt die Freiheit auf.

Und was ist das für ein Mensch, der die Freiheit im Geiste sucht? Ist er ein Schuldiger? Oder gar ein Sünder? Weder noch. Schuld ist ein Verbrechen gegen andere Menschen, und Sünde ist ein Verbrechen gegen Gott. Ein wahrhaft gerechter Gott aber würde niemals jemanden dafür bestrafen, mit freiem Geist aufrichtig nach der Wahrheit gesucht zu haben.

Um das wahrhaft glaubende Individuum wieder gefügig und systemkonform zu machen, wird es von der Religionsgemeinschaft konfirmiert. Dazu bedient man sich der einfachsten Mechanismen, die allerdings auch die wirkungsmächtigsten sind: Zunächst wird das Individuum eingeschüchtert, man jagt ihm Angst ein und bietet ihm, wenn die Angst erst einmal groß genug ist, Hilfe zur Erlösung von seinen Ängsten an:

„Wenn du uns folgst, wirst du deine Ängste verlieren.“

Was das Individuum leider nicht weiß: Es verliert nicht seine Ängste, sondern nur seinen Drang zur Freiheit. Die Ängste werden ihm als Preis für die selig machende Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verkauft, und kleinlaut und über seinen eigenen törichten Mut beschämt, schließt er sich erniedrigt und gedemütigt der Gemeinschaft an. Nirgends wurde dieses Dilemma besser beschrieben als in „Der Großinquisitor“ von Fjodor Dostojewski.

An diesem Punkt seines Gedankenstromes angekommen, fiel ihm auf, dass es draußen mittlerweile dunkel geworden war. Wie viel Zeit mochte wohl vergangen sein? Vielleicht war es nicht gut, so viel Aufmerksamkeit auf diese schwermütigen Themen zu legen, aber in einer seltsamen Weise fühlte er sich davon angezogen.

Es schien ihm, als ob er sich selbst beim Denken zugesehen hätte.